Sherlock Holmes und das Druidengrab
mit irgendetwas bewirten, doch wir ließen Brod mitteilen, dass wir erst einmal die Bibliothek ansehen wollten.
Treppengelaender führte uns, dicht gefolgt von Chaja, über eine knarrende Stiege durch eine Flucht von winzigen Zimmern, in denen dicht gedrängt Menschen lebten, die sich jedoch keineswegs durch unser Erscheinen gestört zu fühlen schienen. Einige glaubte ich von Dr. Kafkas Fotografie zu erkennen. Eine Dachkammer mit schrägen Wänden diente als Bibliothek. Beim Eintreten mussten wir uns bücken. Auf Regalen lagen oder standen ohne erkennbare Ordnung Dutzende alter Bücher und Schriftrollen. Auf zwei Bücherstapeln lag die ausgehängte Tür des Raumes als Schreibunterlage. Als Sitzgelegenheiten dienten zwei wackelig aussehende Kaffeehausstühle mit ramponiertem Farbanstrich. Das Arbeitsmaterial bestand aus einem Kerzenständer, einer Feder in einem Tintenfass und ein paar Blatt Schreibpapier.
„Wer hier hinein will“, meinte Holmes, „muss durch so viele Zimmer und an so vielen Menschen vorbei, dass sich die Suche nach einem Fremden ebenso erübrigt wie angesichts der als Schreibtisch zweckentfremdeten Tür die Suche nach Einbruchsspuren. Kommen Sie, Watson!“
Da unterbrach uns ein Ausruf Treppengelaenders.
„ Do is jo das seifer! “
Er hatte ein altes Buch von der Schreibplatte genommen und hielt es Holmes hin.
„ Es is wider do! “
Das war offenbar die vermisste Handschrift. Ein Geschrei ging durch das ganze Haus, das erst endete, als Treppengelaenders Urenkel Schmul ins Zimmer geholt worden war. Er weinte bitterlich. Um es kurz zu machen: Vacláv hatte ihm gegen Abend einen Groschen zugesteckt, damit er unter größtmöglicher Geheimhaltung das vermisste Buch wieder seinem Urgroßvater ins Zimmer lege. Nun wurde Schmul von mindestens zehn Frauen jedweden Alters getröstet, und auch Treppengelaender sprach in freundlich-verzeihendem Ton mit ihm. Bald waren die Tränen versiegt.
Holmes hatte derweil die Handschrift Seite um Seite mit der Lupe untersucht und sogar daran gerochen.
„Waren diese Male schon?“, fragte er. Unter der Lupe waren auf dem Pergament und dem Einbandleder die Abdrücke von rostigen Metallklammern zu erkennen.
„Und dieser Fleck? Er riecht nach Fixiernatron.“
Nachdem sich Reb Treppengelaender die rostigen Abdrücke angesehen hatte, schüttelte er verneinend den Kopf.
„Nein“, fasste Brod zusammen, „die Flecken und Abdrücke seien neu, meint Reb Treppengelaender. Was bedeutet das?“
„Dass jemand die Seiten mit Klammern fixiert hat, um sie zu fotografieren.“ Holmes legte eine Kunstpause ein.
„Noch einmal, was steht in dem Buch?“
Brod übersetzte, doch Reb Treppengelaender schüttelte wieder energisch den Kopf.
„Er wiederholt, es sei ein theologisches Problem und für Nichteingeweihte nicht interessant. Ich fürchte, er will es uns nicht sagen.“
„Lassen wir es auf sich beruhen! Nun, dann wäre das Rätsel des verschwundenen Buches ja gelöst und wir können unsere Aufgabe als beendet ansehen. Ein neuer Schabbes-Goi dürfte sich sicherlich finden lassen.“
Brod teilte das Reb Teppengelaender mit, worauf Chaja, der diese Entscheidung sichtlich nicht recht war, uns erneut zu Tisch bitten wollte. Wir lehnten höflich, aber bestimmt ab, denn jeder Bissen, den wir gegessen hätten, hätte einem der Hausbewohner gefehlt! Holmes gelang es jedoch, Chaja abzulenken, indem er nach der Wohnung Vaclávs fragte. Sie gab die Frage an ihre Tochter weiter. Im Nu drängten sich noch mehr Menschen um uns – mehr, als in das Zimmer passten. Alle redeten gleichzeitig. Schließlich berichtete ein junges Mädchen, dass Vacláv wahrscheinlich im ehemaligen Stadtarrest wohne. Sie habe ihn jedenfalls einmal hineingehen sehen, als sie mit Einkäufen vom Markt gekommen sei. Mit dieser Erkenntnis traten wir den endgültigen Rückzug an.
„Das ist mir sehr peinlich, Mr Holmes“, entschuldigte sich Dr. Brod draußen.
„Unsinn! Das Buch hat sich wieder eingefunden. Ich frage mich jedoch, warum Reb Treppengelaender ein solches Geheimnis aus dem Inhalt der Handschrift macht. Nun, das soll unsere Sorge nicht mehr sein!“
Nachdem Holmes den Versuch Brods abgewehrt hatte, ihn zu bezahlen, verabschiedeten wir uns.
„Empfehlen Sie uns bitte Dr. Kafka. Gute Nacht!“
„Gewiss! Sie haben etwas gut bei mir! Angenehme Ruhe!“
Zwei Tage später am Abend – Holmes hatte den Fall tatsächlich auf sich beruhen lassen – klopfte Catherine wieder an
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