Sherlock Holmes und das Druidengrab
sich, schwer auf einen Stock gestützt, mit pfeifendem Atem in dem Sessel niederließ, den Holmes ihm mit einer Geste anwies. Der andere, wesentlich jüngere Mann trug keinen Kaftan, sondern einen gut geschnittenen mittelgrauen Straßenanzug und eine runde Brille. Mit der rechten Hand stützte er behutsam den Greis. In der Linken hielt er einen modischen Hut und eine prall gefüllte Aktentasche. Er übernahm das Gespräch in flüssigem Englisch.
„Entschuldigen Sie bitte den späten Besuch. Wir fürchteten, Sie seien schon abgereist. Mein Name ist Brod. Dr. Max Brod. Unser gemeinsamer Bekannter Dr. Kafka empfahl Sie mir. Darf ich Ihnen Reb Treppengelaender vorstellen? Einen meiner besten Freunde. Leider spricht er weder Englisch noch Deutsch, nur Jiddisch. Ich werde daher, wenn Sie erlauben, für ihn sprechen.“
„Wir sind gespannt!“
Dr. Brod nickte dem alten Mann zu. Dieser nickte zurück und begann gestenreich etwas auf Jiddisch zu erzählen. Es klingt wie Deutsch und ist neben diesem und dem Böhmischen überall in Prag zu hören. Ich verstand kaum ein Wort außer „nebbisch“, offenbar eine Art Füllwort. Was Reb Treppengelaender sehr ausführlich und umständlich erzählte, fasste Dr. Brod kurz und konzise zusammen.
Reb Treppengelaender war den eigenen Ausführungen zufolge ein gelehrter, gottesfürchtiger Mann mit einer wertvollen Sammlung hebräischer Handschriften und Frühdrucke. Die allerwertvollste Handschrift sei aber nun abhandengekommen.
„Das Schlimmste ist“, schloss Brod, „der Schabbes-Goi von Reb Treppengelaender ist ebenfalls verschwunden.“
„Der Schabbes-Goi?“, fragte ich.
„Ein Nichtjude“, belehrte mich Holmes, „der am Schabbat all das erledigt, was gläubigen Juden an diesem Tag zu tun verboten ist, wie Feueranzünden oder Botengänge.“
„Richtig, Mr Holmes! Und es steht zu befürchten, dass der Schabbes-Goi die Handschrift entweder selbst gestohlen hat oder in den Diebstahl verwickelt ist.“
„Und dieser Schabbes-Goi heißt wie, Dr. Brod?“
„Wir nannten ihn Vacláv.“
„Vukasinovič Vacláv“, ergänzte Reb Treppengelaender, nach böhmischem Gebrauch den Nachnamen zuerst nennend.
„Sein linkes Bein ist verkürzt“, ergänzte Brod. „Ein Unfall, angeblich beim Militär, obwohl ihm alles Militärische abgeht. Er kam nur freitags ins Haus und blieb bis Schabbat-Ende. Was er sonst machte, wissen wir nicht.“
Treppengelaender erklärte etwas auf Jiddisch.
„Er sei immer sehr pünktlich und zuverlässig gewesen.“
„Wissen Sie, wo er wohnte?“
„Irgendwo auf der Altseite. Niemand war je bei ihm.“
„Mmh! Könnte er denn mit hebräischen Büchern etwas anfangen?“
„Reb Treppengelaender meint, er habe ihn mehrfach beim Lesen in seiner Bibliothek angetroffen.“
„Ich denke, Vacláv sei ein Christ? Wieso kann er Hebräisch lesen?“
„Er kann es eben. Trotz des goldenen Kreuzes um seinen Hals.“
„Können Sie ihn beschreiben?“
„Ich habe sogar eine Fotografie von ihm dabei. Dr. Kafka hat sie am achtzigsten Geburtstag von Reb Treppengeländer mit der Kamera eines Bekannten angefertigt. Warten Sie!“
Dr. Brod öffnete seine Aktentasche und zog eine dicke Pappe heraus. Dabei fiel auch ein Notenblatt heraus, das ich aufhob und ihm zurückgab.
„Danke!“
Die Fotografie zeigte Reb Treppengelaender im Kreise einer großen Familie. Die feine ältere Dame neben ihm war wohl seine Ehefrau. Dank der offenkundigen Familienähnlichkeit waren die übrigen Personen beiderlei Geschlechts, die teils jüdische, teils moderne Kleidung trugen, unschwer als Kinder, Enkel und sonstige Verwandte des Jubilars zu identifizieren.
Neben der Familie stand, kaum erkennbar, weil von einem Mann mit den Schultern eines Möbelpackers halb verdeckt, ein gebeugter blonder Mann mit Binder und einem buschigen Schnauzbart. Er schaute seitlich an der Kamera vorbei.
„Das dürfte Ihnen helfen, ihn wiederzuerkennen, Mr Holmes.“
„Danke. Sie erhalten die Fotografie selbstverständlich zurück. Darf ich fragen, wovon die vermisste Handschrift handelt?“
Brod wechselte einige Worte mit Reb Treppengelaender. Der schüttelte energisch den Kopf.
„Das sei für Außenstehende nicht wichtig, meint er. Acht eng beschriebene Blatt Pergament aus dem sechzehnten Jahrhundert, gebunden in feinstes Rindleder. Ein alternativer Schöpfungsmythos. Es falle eher in die Rubrik Rara et curiosa . Nur etwas für Theologen, meint er, aber absolut einmalig.
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