Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
bedauerlich bezeichnen würde. Aber ich hatte keine Zeit für solche Gedankengänge, ich war zu beschäftigt mit den unmittelbaren Problemen: Holmes’ Zusammenbruch und Moriartys verschleierte (unter den Umständen zugegebenermaßen verständliche) Drohung, seinen Rechtsanwalt einzuschalten. Das mußte um jeden Preis vermieden werden. Holmes war ein hochnervöser Mensch (ich hatte ihn schon früher zusammenbrechen sehen, wenn auch nicht infolge von Kokaingenuß), und eine solche Bloßstellung war undenkbar. *
Vielmehr, so entschied ich nach einigem Nachdenken, brauchte er Therapie. Seine schreckliche Sucht mußte geheilt werden, und um das zu erreichen, brauchte ich Hilfe. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, daß ich nicht imstande war, mit meinen eigenen begrenzten Möglichkeiten und Kenntnissen gegen die Sucht anzugehen. Wenn ich mich nicht sehr täuschte, war ein solcher Versuch, der schon früher meine Fähigkeiten überstiegen hatte, jetzt ganz unmöglich geworden. Während der Monate, in denen wir uns kaum gesehen hatte, hatte der fatale Drang in Holmes sich mindestens verzehnfacht, so daß er jetzt mehr denn je darin verfangen war. War es mir damals nicht möglich gewesen, ihn aus diesem Bann zu lösen, wie konnte mir das jetzt gelingen?
Ich sah auf die Uhr: Es war kurz vor zwei. Der Tag war so gut wie vorüber, und es wäre unsinnig gewesen, jetzt noch die Sprechstunde wieder aufzunehmen, denn Mary sollte um fünf von ihrem Besuch bei Mrs. Forrester zurückkommen, und ich wollte sie zu dieser Zeit in Waterloo Station abholen.
Ich beschloß, in der Zwischenzeit zum Bartholomews-Hospital zu gehen und Stamford um Rat zu bitten. Ich wollte ihm nicht die ganze Wahrheit sagen, sondern ihm das Problem so unterbreiten, als ob es sich um einen meiner Patienten handele.
Der Leser mag sich daran erinnern, daß Stamford während meiner Studienzeit an der Universität London im Jahr 1878 mein Gehilfe war. Seit damals hatte er an derselben ehrwürdigen Anstalt sein Examen gemacht und war nun als Arzt in dem alten Hospital angestellt, in dessen chemischen Labor er mich vor so vielen Jahren mit Sherlock Holmes bekannt gemacht hatte. Er kannte Holmes nicht näher und hatte uns nur zusammengebracht, weil er wußte, daß wir beide eine anständige Wohnung mit einem akzeptablen Mietpreis teilen wollten. Ich nahm mir vor, Holmes, wenn möglich, nicht zu erwähnen.
Wieder einmal machte ich mich auf den Weg, diesmal von dem Mädchen mit einem Schinkenbrot versehen, das ich (gegen ihren Protest) in Papier wickelte und in die Tasche steckte, wie ich es Holmes so oft hatte tun sehen, wenn er mit einem Fall befaßt war und keine Zeit für die üblichen Mahlzeiten hatte. Bei der Erinnerung daran zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen, während ich mich zur Erfüllung meiner traurigen Pflicht in einer Droschke zum Bartholomews-Hospital begab.
Zeitgenössische Forscher haben Erstaunen darüber ausgedrückt, daß Holmes und ich die teuren Droschken bevorzugten, da doch die um vieles billigere Untergrundbahn zur Verfügung stand. Weil ich einmal dabei bin, solche Fragen zu klären, möchte ich sagen, daß die Untergrundbahn, wenn auch billiger und manchmal beträchtlich schneller als die von uns benutzten Pferdewagen, noch nicht überall fertiggestellt war und uns in vielen Fällen nicht ans gewünschte Ziel brachte.
Aber vor allem mieden wir die Untergrundbahn, wo immer wir konnten (und wenn ich sage »wir«, dann meine ich damit die meisten Herren der begüterten Stände), weil sie zu jener Zeit eine unterirdische Hölle war. Dampfgetrieben, schmutzig, schwefelig und keineswegs sicher, waren die Untergrundbahnen bestenfalls unzuverlässig und schlimmstenfalls lebensgefährlich. Kein Ort für Menschen, die sich ein anderes Transportmittel leisten konnten. Wer gezwungen war, die Untergrundbahn zu benutzen, der zog sich unvermeidlich Lungenerkrankungen zu, und in meiner Praxis, die nahe der Bahn lag, sah ich zahlreiche Arbeiter, die in diesem unterirdischen Eisenbahnnetz tätig waren und von denen man sagen kann, daß sie buchstäblich ihr Leben gaben, damit die Londoner von heute sich des modernsten, sichersten und billigsten Transportsystems der Welt erfreuen können.
Keine Untergrundbahn verband die Baker Street mit Bart’s – im Jahr 1891 war die Baker Street bei weitem nicht so lang wie heute, und eine Droschke war daher keine Extravaganz, sondern eine Notwendigkeit (wenn man nicht den Omnibus benutzen wollte, und der hatte
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