Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
entwickeln. An den Namen kann ich mich nicht erinnern, aber er steht irgendwo in dem Artikel. Vielleicht findest du etwas, das dir helfen kann. Tut mir leid, aber mehr kann ich nicht für dich tun.«
Ich bedankte mich herzlich, und wir schieden voneinander mit vielen Versprechungen beiderseits, demnächst zusammen essen zu gehen, uns gegenseitig unsere Frauen vorzustellen und so fort. Keiner von uns beiden hatte die leiseste Absicht, diese Vorsätze einzuhalten, und ich machte mich schweren Herzens auf den Weg zur Waterloo Station. Ich hatte ebensowenig Hoffnung wie Stamford, daß der kurze Artikel im ›Lancet‹ meinen Freund vor dem Abgrund retten könnte. Niemals hätte ich mir träumen lassen, daß Stamford – der unbezahlbare, unschätzbare Stamford! – zum zweitenmal in zehn Jahren die Antwort für mich und für Holmes gefunden hatte.
KAPITEL DREI
Ein Beschluß wird gefaßt
»Jack, Liebster, was ist geschehen?«
Das waren die ersten Worte meiner Frau, als sie in Waterloo Station aus dem Zug stieg. Zwischen uns bestand eine starke seelische Bindung, die sich das erste Mal vor drei Jahren manifestiert hatte, an dem Abend, an dem wir uns kennenlernten. *
Damals waren wir durch den Gang der Ereignisse gemeinsam in ein Dickicht von seltsamen Vorfällen geraten, in dem es entflohene Verbrecher gab, Wilde von den Andamanen, verabschiedete und ruinierte Offiziere, die große Meuterei und den sagenhaften Agra-Schatz. Wir hatten gemeinsam in der furchtbaren Nacht im Erdgeschoß der Pondicherry Lodge gewartet, als Sherlock Holmes, zusammen mit der Haushälterin und Thaddeus Sholto, im oberen Teil des Hauses die Leiche seines unseligen Bruders Bartholomew fand. In dieser Stunde hatten wir, ohne ein Wort zu sprechen – ja, ohne einander zu kennen –, instinktiv im Dunkeln die Hände nacheinander ausgestreckt. Wie zwei verängstigte Kinder hatten wir einander zu trösten und zu beruhigen versucht. So rasch hatte sich die Zuneigung zwischen uns entwickelt.
Dieses lebendige und intuitive Verstehen blieb zwischen uns bis zu ihrem Tod. Es zeigte sich deutlich, als sie an jenem Aprilabend aus dem Zug stieg und mich besorgt anschaute.
»Was ist geschehen?« wiederholte sie.
»Nichts, komm, ich erzähle dir alles zu Hause. Ist das hier dein ganzes Gepäck?«
Und so gelang es mir, sie für eine Weile abzulenken, während wir uns durch den überfüllten Bahnhof fädelten, zwischen Koffern, Mantelsäcken, schreienden Gepäckträgern und Eltern hindurch, die versuchten, ihren kreischenden Nachwuchs im Zaum zu halten. Irgendwie gelangten wir durch den Tumult, fanden eine Droschke, zahlten den Gepäckträger (nachdem er die Koffer festgeschnürt hatte) und entkamen dem ständig gleichbleibenden Chaos von Waterloo.
Unterwegs versuchte meine Frau, ihre Fragen wieder aufzunehmen, aber ich widerstand, plauderte müßig daher und gab mich gezwungen heiter. Ich erkundigte mich nach ihrem Besuch bei ihrer ehemaligen Arbeitgeberin. Denn als ich das Glück hatte, sie kennenzulernen, war sie Gouvernante bei Mrs. Forrester gewesen.
Sie war erst verwirrt über meine Beharrlichkeit, sah aber ein, daß nichts zu machen war, und gab nach. Sie berichtete munter von ihrem Aufenthalt im Landhaus der Forresters in Hastings und von den Kindern, ihren ehemaligen Zöglingen, die jetzt erwachsen genug waren, ohne Gouvernante auszukommen.
»So glauben sie jedenfalls«, verbesserte sich meine Frau mit einem Lachen. Ich glaube, ich habe sie nie mehr geliebt als während dieser Fahrt. Sie wußte, daß mich etwas beschäftigte, aber sie sah auch, daß ich mich nicht mitteilen wollte. Und so nahm sie meine Fragen als Stichworte und heiterte mich in der liebenswürdigsten Weise auf, bis ich mich wieder gefangen hatte. Sie war eine großartige Frau, und ich vermisse sie schmerzlich bis zum heutigen Tag.
Zu Hause erwartete uns das Abendessen, und wir verbrachten die Mahlzeit mit leichtherzigem Geplauder; wir taten unser Bestes, einander Ereignisse und Anekdoten zu erzählen, die sich während unserer Trennung zugetragen hatten. Aber als wir gegessen hatten, spürte sie eine subtile Änderung in meiner Stimme und kam mir zuvor.
»Komm, Jack, du bist lange genug um den heißen Brei geschlichen. Du kannst doch unmöglich noch mehr Einzelheiten über diese gräßlichen Kinder hören wollen. Jetzt kommst du mit mir ins Wohnzimmer«, fuhr sie fort, erhob sich und reichte mir die Hand, die ich sogleich ergriff. »Das Feuer im Kamin braucht nur
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