Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
meines Freundes geschlagen hatten, sich zu einer Flamme entzünden oder morgen schon wieder verlöschen würde. Die Geigenepisode bewies, daß er nicht gänzlich ausgebrannt war, aber daß Musik allein genügen würde, um ihn wiederherzustellen, zog ich instinktiv in Zweifel.
Und irgendwann in meinem unruhigen Schlummer sah ich wieder das böse Gesicht jenes Teufels mit seiner grotesken, fahlen Narbe.
KAPITEL ZEHN
Eine Studie in Hysterie
Beim Frühstück am nächsten Morgen war Holmes schweigsam. Es war ihm nicht anzumerken, ob ihn das musikalische Zwischenspiel wirklich der Genesung nähergebracht hatte. Dr. Freud begegnete dem neutralen Verhalten seines Patienten in derselben Art wie in den Tagen zuvor. Er fragte, ob Holmes gut geschlafen habe und ob er eine zweite Tasse Kaffee wolle.
Was dann geschah, wird für immer die Frage unbeantwortet lassen, ob mein Freund allein durch die Geige zu sich zurückgefunden hätte. Hätte die Türschelle nicht zu diesem Zeitpunkt geklingelt, dann wären wir niemals Hals über Kopf in ein Abenteuer hineingeraten. Und doch bin ich trotz allem froh, daß ein Bote mit einem Brief für Dr. Freud erschien. Ohne ihn hätte Holmes wohl einen Rückfall erlitten, mit oder ohne Geige.
Es war ein Bote vom Allgemeinen Krankenhaus, der Klinik, der Freud einst angehört hatte. Der Brief enthielt die Bitte eines ehemaligen Kollegen, eine gerade eingelieferte Patientin zu untersuchen. Freud las ihn vor, und er hatte einen vertrauten Klang:
Ich wäre dankbar, wenn Sie die Zeit für eine Konsultation aufbringen könnten. Es handelt sich um einen sehr ungewöhnlichen Fall. Die Patientin kann oder will kein Wort sprechen, ist jedoch, wenn auch geschwächt, bei guter Gesundheit. Könnten Sie vorbeikommen und eine kurze Untersuchung vornehmen? Ihre Methoden sind zwar etwas ungewöhnlich, aber ich selbst habe sie immer respektiert.
Der Brief war mit ›Schultz‹ unterschrieben.
»Da sehen Sie, was für eine Sorte Ausgestoßener ich bin«, sagte Freud und lächelte, als er den Brief zusammenfaltete. »Wollen Sie mich begleiten, meine Herren, und einen Blick auf die widerspenstige Person werfen?«
»Das würde mich sehr interessieren«, erwiderte Holmes lebhaft und faltete seine Serviette zusammen. Auch ich war bereit, mitzukommen, bemerkte aber scherzhaft, daß mir Holmes’ Interesse an des Doktors Patienten ganz ungewohnt sei. Er habe sich bisher in dieser Richtung nicht neugierig gezeigt.
»Oh, die Patientin interessiert mich auch nicht«, lachte Holmes, »aber finden Sie nicht, daß dieser Dr. Schultz ganz wie unser alter Freund Lestrade klingt? * Ich habe beschlossen, Dr. Freud mit Sympathie und Mitgefühl zur Seite zu stehen.«
Das Krankenhaus war nicht weit, und bei unserer Ankunft teilte man uns mit, Dr. Schultz sei mit seiner Patientin in der psychiatrischen Abteilung. Wir fanden ihn in einem Hof, der durch eine separate Pforte zu erreichen war und in dem die Patienten sich – unter Aufsicht – sonnen oder spazierengehen durften. Es standen ihnen auch einige Spiele zur Verfügung, und eine Gruppe spielte gerade Croquet, aber es war ein wildes, lärmendes Spiel, das die Anwesenheit des Wärters notwendig machte.
Dr. Schultz war ein schwer gebauter, scheinbar wichtigtuerischer Mensch, etwa fünfzig Jahre alt, mit einem dünnen Schnurrbart und unverhältnismäßig langen Koteletten. Er begrüßte Freud mit zurückhaltender Höflichkeit, Holmes und mich recht flüchtig. Da das Krankenhaus nicht nur der Ausübung, sondern auch dem Studium der Medizin diente, erhob er keinen Einwand gegen unsere Anwesenheit. Anscheinend war ihm bei der Vorstellung nicht entgangen, daß ich Arzt war, und er nahm wohl an, daß wir unsere eigenen Gründe hatten, die Patientin zu sehen.
»Ich habe eigentlich gar nichts damit zu schaffen«, erklärte Schultz, während wir eilig über den Rasen schritten, »aber wir müssen irgend etwas unternehmen. Sie wurde beobachtet, als sie von der Augartenbrücke in den Kanal springen wollte. Passanten versuchten, sie festzuhalten, aber sie riß sich los und sprang hinein. Unterernährt«, fügte er hinzu, als fiele es ihm nachträglich ein. »Als die Polizei sie zu uns brachte, hat sie ein wenig gegessen. Die Frage ist: Was nun? Wenn Sie ihre Identität ermitteln können oder irgend etwas, das uns weiterhilft, bin ich auf immer in Ihrer Schuld.«
Es hörte sich nicht so an, als sei er sehr scharf darauf, auf immer in Freuds Schuld zu stehen, und Freud, statt
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