Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
Vom Netzwerk:
nahm die Stradivari heraus. Dann blickte er zu dem Arzt auf.
    »Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen«, sagte er in dem ruhigen Ton, der mir so unheimlich war. Anna schlug vor Aufregung ihre Hände zusammen.
    »Eine Geige!« rief sie. »Eine Geige! Können Sie spielen? Werden Sie für mich spielen? Bitte!«
    Holmes blickte auf sie herab, dann auf das Instrument in seinen Händen. Das polierte Holz glänzte im Schein des Gaslichts. Er zupfte an den Saiten und sträubte sich ein wenig, als er den Klang hörte. Dann hob er die Geige unters Kinn, drehte den Hals hin und her, um die richtige Stelle zu finden, und begann sie zu stimmen. Schließlich – während wir alle atemlos wie Zirkusbesucher bei einem Drahtseilakt zuschauten – spannte und harzte er das Roßhaar des Bogens.
    »Hmm.«
    Zunächst spielte er nur zögernd und probierte ein paar Akkorde und Phrasen. Aber allmählich breitete sich ein Lächeln auf seinen Zügen aus – es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit ich einen so glücklichen Ausdruck an ihm bemerkt hatte.
    Und dann begann er ernsthaft zu spielen.
    Ich habe die musikalischen Gaben meines Freundes an anderer Stelle erwähnt. Aber nie hat er sich selbst so übertroffen und seine Zuhörer so bezaubert wie in dieser Nacht. Ein Wunder begab sich vor unseren Augen, als die Geige und er sich gegenseitig das Leben wiedergaben.
    Ohne es selbst zu merken, erhob er sich von seinem Stuhl und spielte weiter. Je länger er sich ins Spiel vertiefte, um so lebhafter wurde er. Ich weiß nicht, womit er begann – ich bin musikalisch nicht gerade gebildet, wie einige meiner Leser bereits bemerkt haben –, aber ich nehme an, es handelte sich um seine eigenen Etüden und träumerischen Kompositionen.
    Aber was er dann spielte, das weiß selbst ich. Holmes’ Flair fürs Dramatische triumphierte, und schließlich wußte er ja, wo er war: Er spielte Strauß-Walzer.
    Oh, und wie er spielte! Schmachtend, klangvoll, fröhlich, mit anfeuerndem Rhythmus – an letzterem war nicht zu zweifeln; denn Dr. Freud legte den Arm um die Taille seiner Frau und tanzte mit ihr durch das Eßzimmer ins Wohnzimmer, gefolgt von Holmes, Anna, Paula und mir selbst. Ich war so entzückt von dieser Szene und von dem Lächeln, das immer noch die Züge meines Freundes belebte, daß ich die kleine Hand, die mich am Ärmel zog, nicht gleich bemerkte. Es war Anna, die ihre Arme nach mir ausstreckte.
    Ich war noch nie ein guter Tänzer, und mein verwundetes Bein ließ mich sogar unter das Niveau anderer unmusikalischen Männer sinken – aber ich tanzte. Es war sicherlich keine sehr anmutige Darbietung, aber sie entbehrte nicht des guten Willens und der Energie.
    ›G’schichten aus dem Wienerwald‹, ›Wiener Blut‹, ›Die schöne blaue Donau‹, ›Wein, Weib und Gesang‹ – Holmes spielte sie alle, und wir vier wirbelten lachend und vor Vergnügen kreischend durch das Zimmer! Nach einiger Zeit tauschten wir die Partner, und ich tanzte mit Frau Freud, während der Doktor – offensichtlich etwas geübter im Walzer als ich – mit seiner Tochter herumhopste. Einmal tanzte ich vor lauter Begeisterung sogar mit Paula, die es sich unter kicherndem Protest gefallen ließ.
    Endlich, als es vorüber war, fielen wir atemlos und immer noch lachend in die Sessel. Holmes nahm die Violine vom Kinn und starrte sie lange an. Dann hob er den Blick und sah Freud an.
    »Ihre Talente hören nicht auf, mich in Erstaunen zu versetzen«, sagte Freud zu ihm.
    »Ich beginne soeben, die Ihren zu bewundern«, konterte Holmes und sah ihm gerade in die Augen – und da, zu meinem unendlichen Entzücken, war das vertraute Funkeln.
    In dieser Nacht dachte ich beim Einschlafen über die wunderbare Macht der Musik nach. Ich glaube, es ist irgendwo in Julius Cäsar * , daß der Barde sagt, Musik habe die Macht, die wilden Stürme im Busen zu besänftigen und den rastlosen Geist zu beruhigen, aber ich hatte nie zuvor Gelegenheit gehabt, dieses Phänomen mit eigenen Augen zu beobachten.
    Es tat auch noch weiter seine Wirkung. Nachdem alles zu Bett gegangen war, hörte ich durch die dünne Wand, die Holmes’ Zimmer von meinem trennte, sein Spiel bis in die frühen Morgenstunden. Sich selbst überlassen, kehrte er zu den melancholischen, verträumten Melodien eigener Komposition zurück. Sie waren bewegend und unendlich traurig, lullten mich aber schließlich sanft in den Schlaf. Vage dachte ich noch darüber nach, ob der Funken, den wir in der kühlen Seele

Weitere Kostenlose Bücher