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Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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glaubte, daß er seine Niederlage und sein Hilfsbedürfnis ungern zugab. Aber er brauchte Unterstützung und ahnte wohl auch, was seine Zustimmung für Holmes bedeuten würde.
    »Also gut. Aber beeilen Sie sich. Die Wirkung des Beruhigungsmittels läßt nach.«
    Holmes’ Augen blitzten einen Moment lang vor Erregung auf, dann verschleierten sie sich wieder, und er folgte Freud zu dem Korbsessel.
    »Hier ist jemand, der mit Ihnen reden möchte, Nancy. Sie können ihm so freimütig antworten wie mir. Sind Sie bereit?«
    »J-ja.«
    Freud nickte Holmes zu. Dieser ließ sich zu Füßen des Sessels im Gras nieder und sah zu der Patientin auf. Seine Hände ruhten in seinem Schoß, aber seine Fingerspitzen waren aneinandergepreßt, wie immer, wenn er der Aussage eines Klienten zuhörte.
    »Nancy. Sagen Sie mir, wer Ihnen Hand- und Fußgelenke gefesselt hat«, sagte er. Es kostete ihn keine Mühe, die Sanftheit in Freuds Stimme nachzuahmen. Ich merkte mit Erstaunen, daß er sprach, als beruhige er einen ängstlichen Klienten in seinem Wohnzimmer in der Baker Street.
    »Ich weiß es nicht.«
    Dr. Freud und ich bemerkten zum erstenmal die bläulichen Male an den Gelenken des Mädchens.
    »Es waren Lederriemen, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Und Sie wurden in eine Mansarde gesperrt?«
    »Wie?«
    »Eine Dachkammer?«
    »Ja.«
    »Wie lange hat man Sie dort festgehalten?«
    »Ich – ich –«
    Freud hob warnend seine Hand, und Holmes nickte fast unmerklich.
    »Gut, Nancy, lassen wir diese Frage. Sagen Sie mir: Wie sind Sie entkommen?«
    »Ich zerbrach das Fenster.«
    »Mit den Füßen?«
    »Ja.«
    Jetzt bemerkte ich die Schnittwunden an den Fersen, die von den Krankenhauspantoffeln nicht bedeckt waren.
    »Und dann haben Sie das Glas benutzt, um Ihre Fesseln zu durchschneiden?«
    »Ja.«
    »Und dann sind Sie an der Regenrinne hinuntergeklettert?«
    Er untersuchte vorsichtig ihre Hände. Jetzt, da er unsere Aufmerksamkeit darauf gelenkt hatte, sahen wir die abgerissenen Nägel und die abgeschürften Handflächen. Abgesehen davon waren ihre Hände außergewöhnlich schön: lang, anmutig und wohlgeformt.
    »Dann sind Sie gefallen, nicht wahr?«
    »Ja …« Ihre Stimme klang erregt, und ihre Lippen begannen zu bluten, so böse kaute sie darauf herum.
    »Sehen Sie her, meine Herren!« Holmes stand auf und strich sanft eine Strähne ihres dichten, rotbraunen Haares zurück. Die Krankenwärter hatten es zu einem Knoten gesteckt, aber einige Locken hatten sich gelöst und eine dunkelrote Prellung bedeckt.
    Freud trat vor und gab Holmes ein Zeichen, die Befragung abzubrechen. Dieser zog sich zurück und begann seine Pfeife auszuklopfen.
    »Schlafen Sie jetzt, Nancy, schlafen Sie«, befahl Freud.
    Sie schlief gehorsam ein.

KAPITEL ELF

    Besuch in der Oper

    »Was soll das alles bedeuten?« fragte Freud. Wir saßen in einem kleinen Café in der Sensengasse, nicht weit vom Krankenhaus und dem Pathologischen Institut entfernt, tranken vorzüglichen Kaffee und brüteten über den Problemen einer Frau, die sich Nancy Slater von Leinsdorf nannte.
    »Es bedeutet Schurkerei«, erwiderte Holmes ruhig. »Wir wissen nicht, ob alles wahr ist, was sie sagt, aber soviel ist sicher: Sie wurde an Händen und Füßen gefesselt, ohne Nahrung in einem Raum gefangengehalten, der einem anderen Gebäude in einer schmalen Straße gegenüberlag, und sie entkam auf die von ihr beschriebene Weise. Es ist ein Jammer, daß man sie im Krankenhaus gebadet und ihre Kleider verbrannt hat. Es hätte uns weitergeholfen, sie in ihrem ursprünglichen Zustand zu sehen.«
    Ich warf Freud einen verstohlenen Blick zu, in der Hoffnung, er möge Holmes’ Bemerkung nicht als herzlos empfinden. Der Detektiv war sich durchaus der Tatsache bewußt, daß man eine bis auf die Haut durchnäßte, ausgehungerte Frau nicht in diesem Zustand hatte lassen können, aber die andere Hälfte seines Bewußtseins kategorisierte Menschen automatisch als Einheiten eines Problems, und seine Äußerungen über sie konnten leicht schockierend auf alle wirken, die mit seinen Methoden nicht vertraut waren.
    Aber Dr. Freud war in seine eigenen Gedanken vertieft.
    »Daß ich bereit war, ihr kompletten Wahnsinn zu bescheinigen«, murmelte er, »daß ich nicht sah –«
    »Sie sahen es«, unterbrach ihn Holmes, »aber sie beobachteten nicht. Das ist eine wichtige Unterscheidung, die manchmal den Ausschlag geben kann.«
    »Aber wer ist sie? Kommt sie wirklich von Providence, Rhode Island, oder ist das eine

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