Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
ihm eine Antwort zu geben, warf mir ein Lächeln zu. Mir fiel auf – wie zuvor Holmes beim Lesen des Briefes –, mit welcher Ähnlichkeit der respektable Krankenhausdoktor und der respektable Scotland-Yard-Detektiv ihre jeweilige Nemesis behandelten. Was immer Freuds Theorien sein mochten, sie hatten mit denen Sherlock Holmes’ eines gemeinsam: Sie riefen herablassenden Skeptizismus bei den offiziellen Hütern sanktionierten Gedankenguts hervor.
»Hier ist sie. Ich werde im Operationssaal erwartet. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht für mich im Büro. Ich werde morgen wieder nach ihr sehen.«
Er ging zu seiner Operation und ließ uns allein mit einer jungen Frau. Sie saß in einem Korbsessel und blickte mit unbeweglichen blauen Augen, die selbst das starke Sonnenlicht nicht zum Zwinkern brachte, auf den Rasen. Sie war offensichtlich unterernährt, und ihre Haut war bläulich getönt, vor allem unter den Augen. Ihr Gesicht hätte schön sein können, wäre es nicht durch die Umstände so zerstört gewesen. Sie wirkte sehr erschöpft, ihre unbewegliche Haltung ließ jedoch auf starke innere Spannung schließen.
Freud ging langsam um sie herum, während Holmes und ich zusahen. Er hielt ihr eine Hand vors Gesicht. Sie reagierte nicht. Sie widersetzte sich auch nicht, als er sanft ihr Handgelenk nahm, um den Puls zu fühlen, aber als er ihre Hand wieder losließ, fiel diese wie leblos zurück in ihren Schoß. Ihr Gesicht war schmaler, als es von der Knochenstruktur her hätte sein sollen. Ihr Gewicht war nicht zu schätzen, weil sie die weite Krankenhauskleidung trug. Holmes zeigte ein gewisses Interesse an der Frau und sah aufmerksam zu, während Freud sie rasch untersuchte.
»Da sehen Sie, warum sie mich rufen«, sagte Freud leise. »Sie wissen nicht, was sie sonst tun sollen. In ihrem jetzigen Zustand kann man sie in keine der üblichen Obdachlosenheime schicken.«
»Warum ist sie hysterisch?« fragte ich.
»Das ist doch nicht so schwer zu erraten. Armut, Verzweiflung, Einsamkeit: Am Ende ihrer Kraft, beschließt sie, sich selbst das Leben zu nehmen, und als ihr selbst diese Möglichkeit genommen wird, zieht sie sich in diesen Zustand zurück.«
Freud kramte in seiner schwarzen Tasche und brachte eine Flasche und eine Spritze zum Vorschein.
»Was haben Sie vor?« Holmes kauerte sich, den Blick auf das unglückliche Geschöpf gerichtet, neben ihn.
»Ich werde tun, was ich kann«, antwortete Freud, rollte den weiten Ärmel ihres weißen Morgenrocks zurück und desinfizierte eine Stelle auf ihrem Arm mit Alkohol. »Ich werde versuchen, sie zu hypnotisieren. Dazu muß ich sie zunächst in einen Zustand der Entspannung versetzen.«
Holmes nickte und stand auf, als Freud die Nadel ansetzte.
Er begann, seine Uhrkette zu schwingen und in jenem besänftigenden und doch eindringlichen Ton zu sprechen, den ich so oft gehört hatte. Ich warf einen schnellen Blick auf Holmes, weil mich interessierte, ob der Vorgang irgendwelche Assoziationen bei ihm weckte, aber er war offenbar ganz von den Reaktionen der Frau eingenommen.
Der Doktor winkte uns mit seiner freien Hand, uns aus dem Gesichtskreis der Patientin zu entfernen, und forderte diese dann auf, ihm zuzuhören, sich zu entspannen, keine Angst zu haben und so weiter.
Zunächst nahm ich irgendwo zu meiner Linken noch das Croquet-Spiel mit seinem fürchterlichen Geschrei wahr, aber als Freud fortfuhr, verklang der Lärm. So überzeugend war des Doktors anhaltende Litanei, daß ich mir einbildete, ich sei im vertrauten Halbdunkel des Arbeitszimmers in der Berggasse 19.
Fast unmerklich begannen die Augen der Patientin zu zwinkern und den Bewegungen der Uhrkette zu folgen. Als Freud dies bemerkte, forderte er sie in gleichbleibendem Tonfall auf, die Augen zu schließen und zu schlafen.
Nach kurzem Zögern und einem Flattern der Augenlider gehorchte sie.
»Können Sie mich noch hören?« fragte Freud. »Nicken Sie, wenn Sie mich hören können.«
Sie nickte müde und mit hängenden Schultern.
»Jetzt können Sie sprechen«, sagte Freud zu ihr, »und einige sehr einfache Fragen beantworten. Sind Sie bereit? Nicken Sie bitte wieder.«
Sie nickte.
»Wie heißen Sie?«
Lange sagte sie gar nichts. Ihr Mund bewegte sich leicht, aber sie brachte keinen Laut hervor.
»Bitte sprechen Sie deutlicher. Ich werde wieder fragen, und Sie werden deutlich antworten. Wie heißen Sie?«
»Ich heiße Nancy.«
Sie sprach Englisch!
Freud hob erstaunt die Brauen und
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