Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
interessanten Seiten, und es ist nicht einzusehen, daß die arme Frau weniger Anspruch auf Gerechtigkeit haben soll als ihre wohlhabenderen oder einflußreicheren Geschlechtsgenossinnen.«
Dieses Mal sagte ich nichts mehr und begleitete ihn schweigend durch einen Stadtteil, der einen beträchtlich unerfreulicheren Anblick bot als die Viertel, die wir bisher besucht hatten.
Die Häuser waren nicht höher als zwei Stockwerke und meist aus Holz gebaut. Sie waren schmutzig, hätten oft einen neuen Anstrich gebraucht und drängten alle zum Kanal hin, wo sie erst kurz vor dem Wasser aufhörten. Hier lagen schäbige Boote wie kleine, gestrandete Walfische auf steinigem Grund. Kurze Telegrafenmasten mit durchhängenden Drähten vervollständigten das unerquickliche Bild, und der Kanal selbst war die Krönung des Ganzen. Träge und morastig, vollgestopft mit häßlichen Schleppern – denn Wien wurde weitgehend auf dem Wasserweg versorgt –, erinnerte er mich an manche Abschnitte der Themse als an die schöne blaue Donau, die sich einige Meilen entfernt im Osten dahinzog, außerhalb des Sichtfeldes.
Hier und da unterbrach ein Speicher oder ein kleiner Pier die endlose Reihe der Mietshäuser, und gelegentliches Gelächter und Akkordeonklänge deuteten auf das Vorhandensein einer schmuddeligen Kneipe hin – das luxuriöse Café Griensteidl gehörte zu einer anderen Welt. Rechts von uns, etwa eine Viertelmeile entfernt, lag die Augarten-Brücke, wo das Abenteuer begonnen hatte.
»Eine deprimierende Gegend«, bemerkte Holmes und besah sich die triste Szenerie. »Jedes dieser Gebäude könnte unseren Mutmaßungen über Nancy Slaters Gefängnis entsprechen.«
»Nancy Slater?«
»In Ermangelung eines anderen Namens müssen wir uns mit diesem begnügen«, erwiderte er friedfertig. »Ich bin kein Mediziner und kann sie nicht als Patientin bezeichnen; das Wort Klientin scheint unter den Umständen auch nicht passend. Schließlich ist sie nicht in der Lage, sich uns mitzuteilen oder gar unsere Dienste in Anspruch zu nehmen. Sollen wir zurückgehen? Ich glaube, Dr. Freud hat liebenswürdigerweise einen Abend in der Oper für uns arrangiert. Ich bin versessen darauf, Vitelli zu hören, obwohl man sagt, daß er seinen Zenit bereits überschritten hat. Auf jeden Fall muß ich sicherstellen, daß mir der Frack paßt, den Sie mir besorgt haben.«
Wir kehrten also um und verließen diesen traurigen Ort. Auf dem Heimweg redete Holmes kaum ein Wort, hielt aber in einem Postamt und gab ein Telegramm auf. Ich kannte ihn gut genug, seine Gedankengänge nicht zu unterbrechen. Statt dessen vertiefte ich mich in unser Problem und versuchte ohne Erfolg, den Tatsachen nicht vorzugreifen. Ich gab es schnell auf. Ich konnte nicht so logisch und diszipliniert denken wie mein Freund; ständig kamen mir romantische und gänzlich unwahrscheinliche Lösungen in den Sinn, die ich nicht gewagt hätte, anderen gegenüber zu äußern.
Eines war mir allerdings gelungen: Ich kannte Sherlock Holmes’ Maße und hatte sogar etwas weniger angegeben, weil er so abgemagert war. Und der Frack, den ich bei Horn, dem eleganten Schneider am Stephansplatz, bestellt hatte, saß erstklassig.
Dr. Freud war schon zu Hause und erwartete uns mit den Informationen, die Holmes, wäre er mit der Stadt und der Sprache vertraut gewesen, sich selbst besorgt hätte. Seine Suche hatte einige Zeit in Anspruch genommen, aber immerhin war es ihm zusätzlich noch gelungen, einen seiner Patienten aufzusuchen. ›Wolfmann‹, ›Rattenmann‹, wer immer es war, er war ihnen gegenüber sehr gewissenhaft.
»Baron Karl Helmut Wolfgang von Leinsdorf«, so berichtete Freud, »war über seine Mutter ein Cousin zweiten Grades von Kaiser Franz Joseph. Er kam aus Bayern, nicht aus Österreich, und fast sein ganzer Besitz – Waffen- und Munitionsfabriken – befand sich in Deutschland, nämlich im Ruhrgebiet. Der Baron, obwohl er zurückgezogen lebte, war eine Säule der Wiener Gesellschaft. Er liebte das Theater. Verheiratet war er zweimal, in erster Ehe mit einer der unbedeutenderen Habsburger Prinzessinnen. Sie war vor zwanzig Jahren gestorben und hatte ihm einen einzigen Sohn und Erben hinterlassen.
Der junge Manfred Gottfried Karl Wolfgang von Leinsdorf erfreute sich keines so ehrenwerten Rufes wie sein Vater. Er war ein Verschwender, seine Spielschulden galten als ungeheuerlich und sein Charakter – vor allem was Frauen betraf – als ganz und gar skrupellos. Er hat drei Jahre
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