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Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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Phantasie?«
    »Es ist ein Kardinalfehler, eine Theorie aufzustellen, bevor man die Fakten kennt«, belehrte ihn Holmes, »es beschränkt unweigerlich die Urteilskraft.«
    Er zündete sich eine Pfeife an, während Freud auf seine Kaffeetasse starrte. In den letzten zwei Stunden hatten sich ihre Rollen unmerklich vertauscht. Bisher war der Doktor Mentor und Berater gewesen, jetzt hatte Holmes diesen Part übernommen – und er war ihm vertrauter als der des hilflosen Patienten. Wenn sein Ausdruck auch undurchdringlich blieb, so wußte ich doch, wie froh er war, zu seinem eigentlichen Selbst zurückzukehren; und Freud, das muß man ihm lassen, hatte nichts dagegen, den Schüler zu spielen.
    »Was sollen wir tun?« fragte er. »Sollen wir die Polizei unterrichten?«
    »Sie war in den Händen der Polizei, nachdem man sie fand«, erwiderte Holmes ein wenig hastig. »Sie haben ihr nicht helfen können, was können sie jetzt tun? Und was würden wir der Polizei erzählen? Wir wissen sehr wenig, es mag für Nachforschungen nicht genug sein. In London würde es nicht ausreichen«, fügte er trocken hinzu. »Außerdem scheint ein Mann von Adel in die Sache verwickelt zu sein, was die Polizei etwas vorsichtig stimmen würde.«
    »Was schlagen Sie also vor?«
    Holmes lehnte sich zurück und studierte mit betonter Lässigkeit die Decke.
    »Würden Sie vielleicht den Fall selbst in die Hand nehmen?« hakte Freud nach.
    »Ich?« Holmes tat sein Bestes, um Erstaunen zu heucheln, aber die Rolle war ein wenig zu lebensnah, und ich muß sagen, daß er dieses eine Mal übertrieb. »Aber mein Gesundheitszustand –«
    »Ihr Gesundheitszustand hat Sie offenbar nicht unfähig gemacht«, unterbrach Freud ungeduldig. »Außerdem ist Arbeit gerade das, was Sie brauchen.«
    »Also gut.« Holmes lehnte sich plötzlich vor und gab sein Spiel auf. »Erst müssen wir alles über Baron von Leinsdorf herausfinden – wer er war, woran er starb, und so weiter. Und natürlich, ob er eine Frau hatte, und wenn ja, welcher Staatsangehörigkeit sie war. Da unsere Klientin gewisse Fragen nicht beantworten kann, müssen wir den Fall vom anderen Ende her aufrollen.«
    »Warum nehmen Sie an, daß die Dachkammer einem anderen Gebäude in einer engen Gasse gegenüberlag?« wollte ich wissen.
    »Elementar, mein lieber Watson. Die Haut unserer Freundin war weiß wie ein Fischbauch, aber wir wissen von ihr selbst, daß ein Fenster von einem Umfang im Raum war, der ihr die Flucht möglich machte. Daraus entnehme ich: Irgend etwas muß die Sonne vom Fenster ferngehalten haben, sonst wäre das Mädchen nicht so blaß. Und was ist wahrscheinlicher als ein zweites Haus? Wir können außerdem mit einiger Gewißheit annehmen, daß es später gebaut worden ist als unser fragliches, denn Architekten pflegen im allgemeinen keine Fenster zu entwerfen, die sich auf Ziegelwände öffnen.«
    »Wundervoll!« schrie Freud, der aus Holmes’ Worten und seiner ruhigen selbstsicheren Haltung sichtlich Hoffnung schöpfte.
    »Es ist alles nur eine Frage der wahrscheinlichsten Möglichkeiten. In Shakespeares ›Sturm‹ zum Beispiel erwähnen der gestrandete Herzog und seine Genossen den merkwürdigen Sturm, der sie auf Prosperos Insel trieb und doch nicht einmal ihre Kleider näßte. Die Wissenschaftler haben jahrelang über diesen Sturm diskutiert. Einige behaupten, daß es sich um einen metaphysischen Sturm handele, andere sind überzeugt von einem ähnlich ausgeklügelten symbolischen Hurrikan; aber es hilft zu wissen, daß das Kostüm des Herzogs das teuerste des Elisabethanischen Theaters war und daß die Direktion sich nicht bei jeder Vorstellung das Risiko verschimmelter Kostüme erlauben konnte, ganz abgesehen von der drohenden Lungenentzündung für die Schauspieler. Man kann sich, wenn man das einmal weiß, leicht die beiden Burbages, Vater und Sohn, vorstellen, wie sie den Dramatiker bitten, doch eine Zeile über ihre trockene Gewandung nach dem Kampf mit den Elementen einzuschieben.
    Gibt es in Österreich so etwas wie Burke’s Peerage ? Sie könnten den angebrochenen Nachmittag dazu benützen, einige Einzelheiten über den seligen Baron von Leinsdorf nachzuschlagen.«
    »Sie müssen meinen Zuhörer spielen, Watson«, sagte Holmes, nachdem Sigmund Freud gegangen war, um die Lebensumstände des verstorbenen Adligen zu recherchieren. »Ich muß mich vorsichtig vorwärtstasten – nicht, weil wir mit einem unlösbaren Geheimnis konfrontiert sind, sondern weil ich mich

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