Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic (German Edition)
ein Notfall undenkbar war«, erklärte Bruce Ismay.
Mrs. Farland setzte fort: »Als das Schiff mit dem Bug immer tiefer ins Eiswasser tauchte, als sich alles auf dem Schiff in Schräglage befand, wurde mir klar, wie ernst die Lage war. Mein Mann hatte mich bisher beruhigt, der Junge wirkte gefasst, fast interessiert. Er plauderte mit den beiden Mädchen, die ihn so anhimmelten. Er wollte unerschrocken wirken. Ich muss gestehen, ich dachte, es seien Rettungsboote für alle vorhanden, und wir müssten nur geordnet warten, und alles werde gut. Signalraketen wurden in den sternenklaren Himmel abgefeuert und erhellten die Umgebung des Schiffes. Die Musikkapelle spielte weiter. Das zweite Boot wurde halb leer zu Wasser gelassen. Viele Frauen wollten nicht, dass ihre Männer allein zurückblieben, und Männer durften nicht mehr an Bord. Da schleuderte mich ein Mann aus der Besatzung mit voller Brutalität in das nächste, das dritte Boot. Seine Augen funkelten vor Zorn. Ihr werdet alle ersaufen, aus lauter Dummheit! , schrie er mit irischem Akzent. Peter! , rief ich. Peter ist ein Kind. Und dann wurde auch mein Enkelsohn in das Boot gestoßen, gemeinsam mit den beiden Mädchen. Ein Mann hat nichts im Boot zu suchen! , schrie ein erwachsener Mann, der schon im Boot war. Und er packte Peter an seinen langen blonden Haaren und schleuderte ihn in weitem Bogen auf das Schiff zurück, wo ihm mein Mann auf die Beine half.«
Alle schwiegen, jeder mit der Verarbeitung dessen beschäftigt, was Mrs. Farland soeben erzählt hatte. Es war unfassbar. Unerträglich.
Mit heiserer Stimme fuhr schließlich Bruce Ismay fort: »Wenigstens wurden die Passagiere der ersten Klasse nicht gegenüber den Zwischendeckleuten bevorzugt. Die fünf Millionäre an Bord kamen alle ums Leben: Colonel Astor, Benjamin Guggenheim, Charles Hays, George Widener, John Thayer.«
»Wie gelangten Sie selbst in eines der Rettungsboote?«, fragte Mrs. Farland.
»Ich war fest entschlossen, auf dem Schiff bis zum Ende auszuharren, als ich einen heftigen Stoß verspürte und im nächsten Moment in einem Boot landete, das bereits zu Wasser gelassen wurde. Es war das 15. Rettungsboot. Ich konnte nicht zurück auf das Schiff, ich konnte mich nicht um meine drei Begleiter kümmern, also tat ich trotz der Schmerzen in meinem linken Knie, mit dem ich nach dem tiefen Sturz auf Holz aufgekommen war, was ich konnte. Ich ergriff eines der Ruder und begann, unterstützt von einigen Männern der Besatzung, mit dem Boot vom Schiff, das sich in beträchtlicher Schieflage befand, weg zu rudern, um nicht im Sog der sinkenden Titanic in die Tiefe gerissen zu werden. Die Bewegung gegen die schneidende Kälte der Nacht tat gut. Das Schiff sank weiter. Und ich lebte. 109 Frauen, 52 Kinder kamen im Meer ums Leben. Von den Männern ganz zu schweigen, von denen nur 338 überlebten.«
»Davon 192 Männer der Besatzung«, bemerkte Holmes trocken.
»Mehr als 68 Prozent der Menschen an Bord starben«, sagte Joseph Bruce Ismay. »Wir entfernten uns vom Schiff, von dem wir noch die Band spielen hörten. Und ringsum keine Lichter anderer Schiffe. Keine Rettung in Aussicht. Obwohl sich die Carpathia bereits auf Kurs befand. Ich will nicht daran denken, was mit den Menschen geschah, die im Schiff zurückblieben. Dann sahen wir in der Entfernung, wie sich das Heck der Titanic aus dem Wasser hob. Das Schiff drehte sich wie eine Schraube in das tiefschwarze Wasser, rötlich beleuchtet von den Lichtmaschinen, die noch immer arbeiteten. Menschen fielen ins Meer, mit und ohne Schwimmwesten. Einer der Schlote riss aus seiner Verankerung und stürzte ins Meer, wo Menschen um ihr Leben kämpften, und erschlug sie. Die Höllenfahrt der Titanic hatte begonnen.«
»Ich schlage vor, Sie machen eine Pause«, schlug Doktor Watson dem schweißnassen Joseph Bruce Ismay vor. »Es ist zu schrecklich, was Sie zu berichten wissen.«
»Ja, gönnen Sie sich etwas Ruhe«, sagte Mrs. Farland in versöhnlichem Ton. Sie streckte ihre rechte Hand aus und legte sie beruhigend auf die von Bruce Ismay. Dieser atmete tief durch und begann zu weinen.
Die Brüder Smith entfernten sich schweigend.
Als der Detektiv mit Joseph Bruce Ismay in die Kabine zurückkehrte, wartete erneut der Steward auf ihn. Er berichtete: »Sie hatten recht, Mr. Holmes. Die Kette ist dort, wo Sie sie vermuteten.«
»Gute Arbeit, Conolly«, bedankte sich Holmes.
Der Journalist Robert M. Conolly legte die Uniform eines Schiffsstewards ab. Er teilte
Weitere Kostenlose Bücher