Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge (German Edition)
der Tugend möge sein Porträt positiv verändern.
Ein neues Leben! Darum ging es. Danach sehnte er sich. Und es hatte damit begonnen, dass er das unschuldige Ding geschont hatte. Niemals mehr würde er Unschuld in Versuchung führen. Er würde ein guter Mensch sein.
Als er an Hetty Merton dachte, hoffte er, dass sich das Bildnis in dem abgeschlossenen Raum bereits verändert hatte. Es war doch sicherlich nicht mehr so schrecklich wie zuvor. Vielleicht, wenn sein Leben edel würde, könnte das dem Bild die Zeichen böser Leidenschaft nehmen. Vielleicht waren diese schon verschwunden. Er würde hinaufgehen und nachsehen.
Als er die Tür aufschloss, leuchtete sein jugendliches Gesicht vor Freude. Ja, er würde gut sein und das abscheuliche Porträt, das er weggesperrt hatte, würde ihn nicht mehr quälen. Er fühlte sich, als wäre er bereits von dieser Last befreit.
Aber nachdem er die schwere Tür hinter sich verriegelt und das rote Tuch vom Bild genommen hatte, musste er vor Schmerz und Scham schreien. Er konnte keine Veränderung erkennen, außer dass die Augen noch listiger wirkten und um den Mund ein scheinheiliges Lächeln erkennbar war.
Er zitterte. Hatte er seine einzige gute Tat nur aus Eitelkeit begangen? Die Blutflecken auf beiden Händen des Porträtierten waren eher größer geworden. Bedeutete das, dass er gestehen sollte? Aber würde man ihm Glauben schenken? Vom Mordopfer gab es keine Spur mehr. Man würde meinen, er sei verrückt geworden, und ihn wegsperren. Und doch. Es war seine Pflicht, zu gestehen und von der Öffentlichkeit verachtet zu werden. Diese Last musste er auf sich nehmen. Sollte er wirklich gestehen, im Wissen um Gott, dem das Verbrechen bekannt war?
Nie. Niemals. Es gab einen einzigen Beweis gegen ihn: das Bildnis selbst. Und dieses würde er vernichten. Warum hatte er es überhaupt so lange aufbewahrt? Früher hatte es ihn vergnügt, die Veränderung zu verfolgen, zu sehen, wie das Bild alterte, er jedoch jung blieb. In letzter Zeit war das anders geworden. Der Gedanke an das Bild ließ ihn des Nachts nicht schlafen. Er fürchtete, jemand könnte es sehen. Das Bild war wie ein Gewissen für ihn geworden. Ja, es war sein Gewissen, und er würde es zerstören.
Er blickte um sich und sah das Messer, das den Künstler, der dieses Bild geschaffen hatte, getötet hatte. Es hatte den Maler getötet, also würde es auch dessen Werk töten. Das bedeutete, es würde seine Vergangenheit töten, und wenn diese tot war, war er frei. Er ergriff den Dolch und stach auf das Bild ein.
Im Haus hörte man einen Schrei und einen Fall. Der Schrei war so erschreckend und so qualvoll, dass die Dienerschaft ihre Zimmer verließ. Sie klopften, aber es gab keine Antwort. Sie riefen. Alles blieb still. Schließlich gelangten sie über den Balkon und eines der Fenster in den abgeschlossenen Raum, in dem ein wunderbares Bild ihres Herrn hing, wie sie ihn zuletzt gekannt hatten, in all seiner jugendlichen Schönheit.
Auf dem Boden jedoch lag ein Toter im Schlafrock, mit einem Messer in der Hand. Sein böses Gesicht war mit Falten und Runzeln bedeckt. Erst als sie die Ringe geprüft hatten, erkannten sie, um wen es sich handelte.
Eine simple Geschichte, ein Roman mit Elementen des Gothic Horrors , fand Holmes. Und doch. Das Buch hatte mehr Tiefgang, als man bei oberflächlicher Lektüre bemerkte. Es enthielt die Einsicht, dass man nur so lange geachtet leben konnte, als das Bild, das man den Menschen, der Gesellschaft, bot, unversehrt war, auch wenn man in Wahrheit ein ganz anderes Dasein führte. Zerstörte man selbst oder jemand anderer dieses Bild, wurde das wahre, ungefilterte Selbst sichtbar, so erwies sich das als tödlich für den betreffenden Menschen. Es bedeutete zumindest den gesellschaftlichen Tod, der für einen Dandy wie Wilde gleichbedeutend war mit der körperlichen Auslöschung. Eine Aussage, die vor allem für den Schriftsteller selbst zutraf, die offenbar auch Moriarty kannte und die er gnadenlos gegen den Autor einsetzen wollte.
Wieder fragte Holmes nach dem Grund des grausamen Planes und wusste, dass ihn nur das WARUM im Kampf gegen Moriarty weiterbringen konnte.
»Es ist soweit«, unterbrach Watson die Überlegungen seines Freundes. »Die Übergabe findet am Smith Square in Westminster statt.«
»Den Tausch zwischen fünftausend Pfund Polizeigeld gegen eine hübsche Brosche, meinen Sie.«
»Welche Brosche? Ach, die Annonce! Wie Sie in einer so ernsten Angelegenheit scherzen
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