Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge (German Edition)
Pferdes klangen.
Zwei Männer in Wärteruniform stießen ihren Kollegen zur Seite und packten den Detektiv an beiden Schultern. Holmes, der das erwartet hatte, leistete keinen Widerstand.
Man begann die Kleidung des Detektivs abzutasten, forderte ihn auf, sein Jackett abzulegen und widmete sich diesem mit besonderer Sorgfalt. Als die beiden Männer nichts fanden, zogen sie sich achselzuckend zurück, ohne den Vorfall auf irgendwelche Weise zu erklären. Der erstaunte Wärter, der Holmes vom Eingang hierher gebracht hatte, entschuldigte sich bei dem Detektiv. Er wisse selbst nicht, was das zu bedeuten habe, es sei noch nie vorgekommen.
Holmes entschied sich, nichts zu unternehmen, solange er sich in diesem Gebäude aufhielt, und die Angelegenheit über seinen Bruder verfolgen zu lassen. Er glaubte nicht daran, dass die Beamten Komplizen des Professors waren, das wäre eine zu eindeutige Spur zu ihm. Vielmehr vermutete er eine anonyme Nachricht mit einem Hinweis auf einen geplanten Anschlag durch einen Besucher auf den prominenten Häftling. Also war das Vorgehen der Wärter zwar rüpelhaft, stand aber letztlich im Einklang mit ihren dienstlichen Pflichten.
Der Wärter entriegelte die Metalltür zu Wildes Zelle und ließ sie einen Spaltbreit geöffnet. »Ich befinde mich in Rufweite, wenn Sie mich benötigen«, erklärte er dem Detektiv.
Beim Eintreten in den engen Raum, in dem ein Holztisch mit Sessel, eine Pritsche sowie zwei Blechkübel für hygienische Verrichtungen standen, stellte sich der Detektiv dem aus dem vergitterten Fenster blickenden Mann vor.
»Eine interessante Begegnung«, sagte der bleiche Mann mit tonloser Stimme. »Wenn Sie vorhaben, mich hier herauszubringen, muss ich Sie enttäuschen. Ich bin der Vergehen, derentwegen man mich hierher verfrachtet hat, schuldig. Sollten Sie mich weiterer Sünden anklagen, um mich noch länger wegzusperren, können Sie nicht mit meiner Hilfe rechnen.«
»Der Grund meines Besuches, mein Herr, ist ein anderer. Ich ahne, wer Sie hierher gebracht hat. Der Grund dafür ist mir noch nicht bekannt. Ich hoffe auf Klärung der Ursache Ihrer Inhaftierung, um in einem wichtigen Fall, an dem ich arbeite, voranzukommen.«
»Das ist nicht schwer«, entgegnete Oscar Wilde und versuchte ein Lächeln. »Der Grund für meinen Aufenthalt im Gefängnis zu Reading liegt in meinen Handlungen und in meiner Dummheit vor Gericht. Ich habe alles, alles zerstört, meine Familie, meinen guten Ruf, habe alles verloren und mich entschlossen, diese Strafe anzunehmen.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Man legte mir nach der Verurteilung nahe, dass ich dem Gefängnis durch eine Flucht auf den Kontinent entgehen könnte. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden. Ich wollte meine Strafe antreten und absitzen. Obwohl ...«
»Ja, Mr. Wilde?«
»Obwohl ich es mir leichter vorgestellt habe. Nicht die Einsamkeit, nicht die Kargheit dieses Raumes, das schlechte Essen lassen mich verzweifeln. Nein. Hier werden auch Menschen hingerichtet. Zur Abschreckung geschieht das im Hof, in den sich unsere Fenster öffnen. Es ist herzzerreißend, unmenschlich. Eine barbarische Form, Gerechtigkeit zu üben. Um damit einigermaßen fertig zu werden, schreibe ich in der Zeit, die mir bleibt.«
»Woran arbeiten Sie gerade?«, erkundigte sich Holmes, der sich vorgenommen hatte, den Häftling reden zu lassen, ohne ihn in eine bestimmte Richtung zu drängen.
»Eine Ballade über diesen Ort. Aber ich finde kaum Zeit dazu. Die Arbeit, zu der ich verurteilt wurde, ist ziemlich anstrengend.«
»Körperliche Arbeit.«
Wilde nickte. »Es ist nichts, worüber man sprechen möchte. Arbeit, die Kraft und Energie fordert, aber ohne Wert ist.«
»Und Sie denken, dass Sie aufgrund Ihres eigenen Verhaltens und nicht wegen einer Intrige ins Gefängnis kamen.«
»So ist es«, stellte Wilde fest. »Niemand anderer als ich selbst ist schuld daran und diese Gewissheit hilft mir, diese Situation hier erdulden zu können.«
»Was schrieben Sie zuletzt, vor Ihrem Prozess?«
»Oberflächliches Zeug, dessen ich mich nun schäme.«
»Was konkret?«, fragte Holmes.
»Ein Theaterstück. Ernst sein ist alles . Ein Spiel mit Identitäten.«
»Mich würde das sehr interessieren.«
»Die Theater haben es vom Spielplan genommen, die geplante Publikation ist verhindert worden. Das Stück ist mit seinem Autor untergegangen.«
»Aber es gibt noch Manuskripte davon.«
»Wahrscheinlich bei meinem ... Bei einem meiner Freunde. Wenn er
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