Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge (German Edition)

benötigte die weiße Göttin, um sich zu konzentrieren.
    Das war der Punkt, an dem man ansetzen musste. Alle Versuche, ihn auf gewaltsame Weise auszuschalten, waren zum Scheitern verdammt. Dafür war er zu schlau. Man musste verhindern, dass er sich konzentrierte, ihn mit Ideen und Taten bombardieren, sodass er keine Minute zur Ruhe kam. Ein Feuerwerk von Geschehnissen, die letztlich seinen Geist zerrütteten. Er durfte nicht erkennen, was wirklich wesentlich war, musste sich verirren in einem Labyrinth an möglichen Hinweisen, die er ihm zukommen lassen würde.
    Die schmalen Lippen des Professors öffneten sich zu einem Lächeln, das für einen kurzen Augenblick seine bläuliche Zunge entblößte, dann wurde er wieder todernst.
    Holmes konnte ihm gefährlich werden, indem er Moriartys Schwäche erkannte und ausnutzte. Es war ein Punkt in der Vergangenheit, an dem der verdammte Wilde gerührt hatte und genau mit diesem Mann plante der Detektiv ein Treffen. Sein Fehler. Moriarty würde die Begegnung zwischen dem Detektiv und dem Schriftsteller dazu verwenden, Holmes körperlich und seelisch zu vernichten, indem er auch ihn ins Gefängnis brachte.
    Befriedigt setzte sich der Professor an sein Rechengerät. Ja, so würde alles wie geplant ablaufen. Man musste die richtigen Prioritäten setzen.
     
    Sherlock Holmes erreichte das etwa vierzig Meilen westlich von London gelegene Reading am späten Nachmittag. Er nahm ein komfortables Zimmer im Forbury , wo er auch zu Abend aß.
    Am Morgen gegen halb neun Uhr ließ er sich zum Berkshire County Goal bringen, zögerte jedoch, den neu errichteten Ziegelblock, der in der Form eines christlichen Kreuzes gebaut war, zu betreten.
    Er dachte an Moriarty und fürchtete, selbst – im übertragenen Sinn – an das Kreuz geheftet zu werden, wenn er unvorsichtig war.
    Was , so überlegte er, würde Moriarty tun, um Holmes' Plan zu vereiteln, über den inhaftierten Schriftsteller Wilde an Moriartys Geheimnis, seinen schwachen Punkt, heranzukommen?
    Der Professor würde entweder ihn oder Wilde körperlich vernichten. Im Falle von Wilde wäre das nicht einfach, da der Mann im Gefängnis auch für Moriarty nur schwer erreichbar war. Also hieß es, was Holmes' eigene Person betraf, besonders vorsichtig zu sein.
    Moriarty würde sich nicht mit einer einfachen Attacke auf ihn begnügen, besonders in Anbetracht des Umstandes, dass ähnliche Unterfangen bisher gescheitert waren. Er würde sich etwas Besonderes ausdenken, eine zynische Teufelei, der er zuvorkommen musste.
    Im selben Moment, in dem er das dachte, fiel ihm ein, was das sein könnte, und es erschütterte ihn, dass er beinahe darauf hereingefallen wäre.
    Holmes ließ sich ins Hotel zurückbringen. Eine Verzögerung seines Besuches im Gefängnis war weniger dramatisch als seine Vernichtung als Detektiv und Mensch.
    Holmes entnahm dem Kleiderschrank seinen Reiseanzug, der nicht mehr ganz frisch war, und untersuchte ihn von oben bis unten, bis er feststellen konnte, dass damit alles in Ordnung war. Daraufhin entkleidete er sich völlig, schlüpfte in die bereits gebrauchte Wäsche aus dem Schrank und in den weniger eleganten Anzug.
    Als Nächstes nahm er sich die abgelegte Kleidung vor und entdeckte tatsächlich in einer Innentasche des Jacketts ein in braunes Wachspapier gehülltes Päckchen, in dem sich weißes Pulver befand.
    Kokain, das er in das Gefängnis hätte schmuggeln sollen, um dort festgenommen und selbst inhaftiert zu werden, da man ihn auf diese Weise verdächtigt hätte, dem eingesperrten Dichter einen angenehmen Tod durch Selbstmord oder Mord zu bereiten.
    Holmes suchte den Waschraum auf und entsorgte die Droge in einer der Toiletten.
    Dann begab er sich erneut, um eine halbe Stunde verspätet, zum Kerker von Reading.
    Zellenblock C, Stiege 3, Zelle 3. Oscar Wilde war wie alle Insassen des Berkshire County Gefängnisses in einer Einzelzelle untergebracht. Man glaubte in dieser modernen Institution an die segensreiche Wirkung der Isolation der Insassen.
    Der Beamte am Haupttor prüfte das von Bruder Mycroft ausgestellte Dokument, das Holmes den Besuch des Schriftstellers aus beruflichen Gründen ermöglichte. Ein in dunkles Grau gekleideter Wärter, der selbst wie ein Übeltäter aussah, führte Holmes zu Zellenblock C, der im rechten Balken des kreuzförmigen Gebäudes untergebracht war, enge, dumpf riechende Gänge entlang, als sich von hinten eilige Schritte näherten, die auf dem Steinboden wie der Galopp eines