Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge (German Edition)
vier festlich gedeckten Tafeln geleitet und sah sich nach kurzer Zeit, und zu seiner Verärgerung, in Gesellschaft von Doktor Watson und seiner Frau Mary. Nicht dass er deren Erscheinen nicht erwartet hätte. Er hatte beinahe fest damit gerechnet, fand aber dennoch das Verhalten seines Freundes unverantwortlich bis lebensgefährlich.
»Was sollte uns inmitten der Spitzen der Londoner Gesellschaft passieren?«, fragte der Doktor und beantwortete die eigene Frage. »Nichts. Moriarty kann sich keinen Skandal leisten.«
»John wollte Sie nicht allein dieser Gefahr aussetzen«, meinte Mrs. Watson. »Er bestand darauf, hier zu erscheinen. Und ich wiederum wollte ihn nicht allein gehen lassen.«
»Die Absicht ist edel«, räumte der Detektiv ein. »Dennoch wäre es mir lieber gewesen ... aber was soll es. Wir müssen das Beste aus den gegebenen Tatsachen machen. Wir dürfen uns nicht trennen, uns nicht abdrängen lassen. Sie haben natürlich recht, Watson, dass man uns im Beisein des Londoner Bürgermeisters Hanson und der Spitzen der Gesellschaft aus Adel, Politik, Finanzwelt und Kunst nicht körperlich angreifen wird. Aber wir müssen, was Speisen und Getränke anbelangt, sehr vorsichtig sein, am besten nur vortäuschen, davon zu nehmen, so schwer es Ihnen angesichts der zu erwartenden Köstlichkeiten auch fallen mag. Die Einladung haben Sie vermutlich einem Ihrer Patienten zu verdanken.«
Doktor Watson bestätigte dies, und Holmes drängte nicht weiter, weil er ahnte, dass es sich dabei um den indischen Diener der Königin handelte.
Der von tausenden Kerzen erhellte Saal füllte sich allmählich mit elegant gekleideten Menschen. Sie betraten den Raum durch zwei Toröffnungen, die mit im Laufe der Jahrhunderte dunkel gewordenem Eichenholz verkleidet waren. Am entgegengesetzten Ende der Halle, in der sechs weiß gedeckte Speisetafeln parallel zueinander aufgestellt waren, stand eine Estrade für das Streichquartett, das sich aus drei Herren und einer Dame zusammensetzte.
An den mit weißen Seidentapeten versehenen Wänden, die an der Raumdecke mit goldenem Stuck eingefasst waren, hingen Gemälde von bekannten Meistern wie Rembrandt, Vermeer, Turner, Reynolds und Gainsborough.
Über dem Kaminsims hing das Wappen des Hauses, das in weißem Feld eine gekrönte Schlange darstellte. Das Tier hatte die Form einer liegenden Acht, der Lemniskate, des Symbols der Unendlichkeit. Darunter stand in goldenen gotischen Lettern der Spruch: Mathematik ist Religion.
Ein Raunen ging durch die versammelte Menge, als der Londoner Lord Mayor Reginald Hanson, ein etwas gebückt gehender Mann, in Begleitung seiner strahlend schönen Frau hereingeführt wurde. Applaus brandete auf, der sich verstärkte, als der Jubilar, Professor James Moriarty, in Begleitung seiner Mutter Elena den Saal betrat.
Die Streichergruppe spielte Mozarts Dissonanzenquartett, dem der Detektiv mit voller Aufmerksamkeit folgte, während sich die übrigen Gäste unterhielten und nach Bekannten Ausschau hielten, denen sie zugrüßten.
Holmes fand die Wahl des Musikstückes typisch für den Mathematiker Moriarty, denn jeder Ton der ersten sechs Adagio-Takte war in einer Klangreihe rückverbunden, die durch freie Harmonisierung einer Zwölftonreihe entstanden war. Den Übergang von einem Klangreihenakkord zum nächsten bildeten ausschließlich Prim- und Sekundarintervalle. Eine bahnbrechende Entwicklung, die nur von absoluten musikalischen Kennern erkannt wurde. Dieses Musikstück Mozarts, das bei den meisten laienhaften Zuhörern wegen seines Klanges Unbehagen auslöste, wurde nur selten gespielt.
Auch an diesem Abend hielt sich der Applaus der Geburtstagsgäste am Ende der Darbietung in Grenzen.
James Moriarty erhob sich und begrüßte die Anwesenden mit angenehmer, tief tönender Stimme, wobei er seinen Blick über die illustren Gäste schweifen, und kurz auf Sherlock Holmes und seinen Freunden ruhen ließ. Er bedankte sich für die Freundlichkeit, seinen fünfzigsten Geburtstag mit ihm zu feiern.
»50 = 5 2 + 5 2 = 7 2 + 1 2 . Fünfzig«, so betonte der Professor, »ist die kleinste positive Zahl, die sich auf mehr als eine Art als Summe von zwei positiven Quadratzahlen darstellen lässt. Das heißt, dass ich in dieser Hinsicht am Anfang einer Entwicklung stehe, der viele weitere Ereignisse folgen werden.«
Applaus. Darauf erhob sich zur Linken Moriartys Mutter, die von der Ferne in ihrem eng anliegenden, schimmernden Kleid fast wie eine junge Frau wirkte.
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