Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge (German Edition)
unserem Freund angetan hat. Wären Sie bereit, uns von Ihrem Schicksal zu erzählen, Mr. Binns?«
Der kräftige weißhaarige Mann räusperte sich, dann begann er mit überraschend brüchiger Stimme: »Ich hatte diesen Beruf gewählt, weil mein Vater und mein Großvater schon in dieser Eigenschaft tätig waren. Andrew, mein Sohn, sollte mir folgen. Ich dachte besonders in jungen Jahren, es sei ein Handwerk wie jedes andere. Je besser man es beherrscht, umso problemloser ist das für die Opfer der Hinrichtungen. Und ich verließ mich auf das Urteil der Richter. Ich hatte eigentlich nur einmal den Eindruck, einen Unschuldigen töten zu müssen, von dem letzten Mal abgesehen, an dem ich das Beil fallen ließ, jenem schrecklichen Tag vor zwei Jahren, als ich Wentworth Renfrew enthaupten sollte. Es müsse schnell gehen, sagten mir die Männer in Holloway, und ich muss gestehen, ich hatte wieder getrunken, weil, weil ...«
»... weil Ihnen diese Art der Arbeit mit zunehmendem Alter immer schwerer fiel«, nahm ihm Sherlock Holmes die Bürde der Worte ab.
»Jedenfalls wartete ich nicht darauf, bis der verhüllte Mann, der offenbar aus Angst ohnmächtig geworden war, zu sich kam. Nach der Hinrichtung musste ich entdecken, dass ich Andrew, meinen Sohn, enthauptet hatte. Er hatte mich ins Gefängnis gefahren. Man hatte ihn betäubt und in den Hinrichtungsraum geschleppt.«
»Moriartys Männer.«
»Die Bediensteten des Gefängnisses waren mit vergiftetem Alkohol außer Gefecht gesetzt worden.«
»Warum?«, fragte Holmes. »Erklären Sie Watson, warum man Ihnen und Ihrem Sohn das angetan hat.«
»Ich hatte einige Wochen zuvor einen der Mitarbeiter Moriartys unters Fallbeil gebracht.«
»Wie ging es weiter?«
»Nichts. Es geschah nichts. Ich stand da mit meinem Zorn, meiner Schuld, und niemand half mir. Ein bedauerlicher Unfall unter dem Einfluss von Alkohol, hieß es. Ich musste noch froh sein, nicht des Mordes an meinem Sohn bezichtigt zu werden. Man legte mir nahe, in den Ruhestand zu treten, und zeigte sich finanziell sehr großzügig, sodass es mir möglich war, die Dienste des besten Detektivs unseres Landes zu beanspruchen, um die Hintermänner dieser Tat ausfindig zu machen: Sherlock Holmes, der übrigens kein Geld von mir nahm, mir aber einen Hinweis auf das leere Haus in der Baker Street gab, das günstig zu erwerben war, und der mir immer wieder hilft, wenn die Stimmen der Toten zu laut werden.«
»Mr. Binns ist Witwer«, erklärte Holmes.
Watson drückte dem Mann sein Mitgefühl aus, indem er ihm die Hand reichte, dann wandte er sich an seinen Freund. »Ich erkenne das Ziel, auf das alles zusteuert. Dahinter steckt ein Masterplan, den Sie entwickelt haben, Holmes, und er gefällt mir nicht. Sie wollen das Recht, die Gerechtigkeit, selbst in die Hand nehmen, indem Sie sich des Henkers von London bedienen. Ich warne davor, meine Herren. Sie unterscheiden sich, sobald Sie sich zu einer Unrechtstat haben hinreißen lassen, in nichts mehr von dem Verbrecher, den Sie vorgeben bekämpfen zu wollen.«
»Und Ihre Frau?«, wandte Holmes ein.
»Ich kann zwischen Privatem und Beruflichem trennen. Auch meiner geliebten Mary zuliebe würde ich meine Grundsätze nicht aufgeben.«
»Mr. Holmes«, meldete sich Bartholomew Binns zu Wort, »hat den Fall exakt dokumentiert. Ich wollte vor Gericht damit, bin aber gescheitert. Entweder verlor der Richter, der gegen Moriarty vorgehen wollte, sein Leben oder seinen guten Ruf. Zwei der Richter begingen Selbstmord, weil man ihnen selbst Verstöße gegen das Gesetz nachweisen konnte. Es ist an der Zeit, tätig zu werden. Vor Konsequenzen schrecke ich nicht zurück. Ich habe Sherlock Holmes' Aufzeichnungen sicher bei einem Rechtsanwalt deponiert und kann im Falle einer Anklageerhebung gegen mich darauf zurückgreifen.«
»Sie sind also entschlossen, Moriarty zur Strecke zu bringen.«
»Es zumindest zu versuchen. Es wird nicht leicht werden«, bekräftigte der Henker von London.
»Wir können nicht mit gebundenen Armen und Beinen in die entscheidende Schlacht gehen. Wir müssen uns alle Möglichkeiten offen lassen, Watson, und dabei so viel und so wenig Gewalt anwenden wie erforderlich«, stellte Holmes klar, dann fügte er hinzu: »Und Ihnen, mein lieber Watson, rate ich, sich uns entweder ohne Wenn und Aber anzuschließen oder zu Hause zu bleiben.«
»Gut. Das waren klare Worte«, sagte Watson, »die ich ebenso klar und deutlich erwidere: Ich werde kommen.«
Sherlock Holmes
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