Sherlock Holmes und die Shakespeare-Verschwörung (German Edition)
Irgendwann muß er ohne seine Familie nach London gegangen sein und dort als Schauspieler gearbeitet haben.«
»Ausgezeichnet, Doktor. Alle Achtung.«
»Nun machen aber Sie weiter, Mr. Hall.«
»Mit Vergnügen. Also: 1592 wird erstmals ein Schriftsteller namens William Shakespeare in einem zeitgenössischen Dokument erwähnt, kritisch allerdings.
Die Schauspieltruppe, der Shakespeare angehörte, spielte vor Königin Elizabeth I. und ihrem Nachfolger James I. Die Kompanie nahm unter James den Namen ›King's Men'an. 1611 verließ Shakespeare London und zog sich nach Stratford zurück, wo er fünf Jahre später starb.
Er wurde in der Trinity Church beigesetzt. Die Aufschrift auf der Grabplatte warnt vor einer Störung seiner Totenruhe.«
»Warten Sie, ich glaube mich an die Worte zu erinnern«, unterbrach ihn Watson.
»Mein Freund, laß ab von diesem Raub.
Bewahre gnädig meinen Staub.
Im Namen Jesu schone mein Gebein.
Es liegt ein Fluch auf diesem Schrein.« 3
»So ist es«, gab sich Jonathan Hall begeistert. »Der Öffentlichkeit war keine Originalhandschrift eines Shakespeare-Stückes bekannt, auch publizierte Shakespeare kein einziges Drama zu seinen Lebzeiten, wohl aber Gedichte und Sonette. Es gab vereinzelt gedruckte Versionen von Shakespeare-Stücken im kleinformatigen, schäbigen Quarto-Format, als Raubdrucke. Das erste Stück, das auf diese Weise herauskam, war eine billige Ausgabe von Titus Andronicus. Bis zu seinem Tod 1616 erschienen siebzehn weitere Stücke in diesem Format.
Eine sauber gedruckte Ausgabe der Dramen von William Shakespeare wurde sieben Jahre später veröffentlicht, die First-Folio-Edition, in größerem Format. Sie enthielt 36 Shakespeare-Stücke. 18 davon waren vorher noch nie gedruckt worden.
In jenem Jahr 1623 wurde zum ersten Mal klar, welche Begabung der Autor hatte, von dem diese Stücke stammten, welches Wissen er gehabt haben muß über klassische Literatur, das englische Rechtswesen, die englische Politik und das Königshaus. Es war unvorstellbar, daß ein Mann vom Land, der Schauspieler mit Namen William Shakespeare, diese Stücke geschrieben hatte. Die wenigen Dokumente, die in Shakespeares Handschrift erhalten sind, darunter die Unterschrift unter seinem Testament, zeigen, daß jener Mann kaum des Schreibens fähig war.
Was also war der Grund dafür, daß dieser Schauspieler, der in vielen Stücken des wahren Dramatikers auftrat, für die Autorenschaft herhalten mußte? Warum verbarg sich der Schriftsteller hinter dem Schauspieler?«
»Das ist hier die Frage«, sagte John Watson.
»Es wird Zeit, Papa. Du mußt es dem Doktor sagen«, drängte Myra Hall ihren Vater.
»Meine Tochter, müssen Sie wissen, hat Sie und mich nicht ganz ohne Hintergedanken zum Essen eingeladen. Sie hat mich gebeten, Ihnen etwas zu zeigen, was mein Chef, der verstorbene – ermordete – Professor Wilcher in seinem Safe im Resource Trust aufbewahrte. Ich kann mir die Bedeutung der Gegenstände noch nicht erklären, weiß aber, oder vermute, daß sie mit seinem Tod in Verbindung stehen. Wenn ich Sie mit dieser Angelegenheit belasten darf …«
»Sie dürfen, Mr. Hall. Ich nehme an, daß Sie diese Gegenstände weiterhin im Institut aufbewahren.«
»Das erschien mir nicht sehr weise, angesichts der Vorkommnisse. Ich habe diese Pretiosen, denn um solche handelt es sich, im Hause meiner Tochter deponiert. Wenn Sie uns begleiten würden? Es ist nur ein kurzer Weg zu Fuß.«
Im Wohnzimmer von Myras Haus schloß der Literaturwissenschaftler die Vorhänge, dann streifte er weiße Handschuhe über seine Hände, verließ den Raum und kehrte nach einigen Minuten mit zwei Stofftüchern zurück. Das seidenähnliche Material war gelblich verfärbt, mit unregelmäßigen Flecken.
Watson ging sehr nahe an das Gewebe heran und stellte fest, daß es zart bemalt war.
»Es handelt sich«, sagte Mr. Hall, »um Muschelseide.«
Als ihn Watson fragend ansah, präzisierte er: »Bilder, die auf ein Gewebe von Muschelseide gemalt werden, kommen nur unter besonderen Lichtverhältnissen zum Vorschein.«
»Was ist Muschelseide?«, fragte Watson.
»Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet. Soviel ich weiß«, erklärte Mr. Hall, »wird sie aus den Fäden gewonnen, mit denen sich eine große Muschelart an den Meeresboden heftet. Ein wundersames Material, aus dem der Mantel des König Salomon gefertigt war, heißt es.«
Mr. Hall gab seiner Tochter Myra ein Zeichen, und diese brachte einen menschlichen
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