Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
kann mitunter bei der Lösung des Falles sehr nützlich sein. Ich darf Ihnen jedoch versichern, es gibt mich wirklich. Womit wir fast schon beim Thema wären. Aber wenn ich mir eine Frage gestatten darf: Sie haben Lilienfüße?«
Das Lächeln auf Madame Hsiaos schönem Gesicht erstarb. Sehr taktvoll schien mir die Frage nicht. »Ja, das habe ich. Man hat gleich nach meiner Geburt begonnen, die Füße zu bandagieren, damit sie nicht wachsen.« Sie hob kurz einen Fuß. Unter ihrem Gewand lugte ein winziger, verformter chinesischer Schuh hervor.
Ich war entsetzt! Eine so schöne Frau, und dann dies. Verkrüppelte Frauenfüße galten bei chinesischen Männern nicht nur als besonders schön, ihren Besitzerinnen wurden auch in der Liebe besondere Fähigkeiten zugeschrieben. So viel ich wusste, traf dieses Schicksal vor allem Mädchen aus wohlhabenden Häusern, Mädchen also, die man bequem ernähren konnte, denn sie konnten sich nur mühsam am Stock fortbewegen, und auch dies meist nur mit der Hilfe einer Betreuerin. Armen Frauen blieb das Wickeln in der Regel erspart, denn sie mussten arbeiten, was mit Lilienfüßen nicht möglich ist.
»Madame«, versicherte Holmes, »ich darf Ihnen versichern, dass ich diese Sitte absolut barbarisch finde. Ich hoffe, Sie wurden nicht von Ihren Eltern verkauft.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Holmes, für Ihre freundlichen Worte. Leider muss ich Ihre Hoffnungen enttäuschen. Meine Eltern verkauften mich, sobald ich zwölf Jahre alt war. An Herrn Cheng, den Besitzer eines Blauen Hauses.
Ich musste vor den Gästen singen und tanzen und ... anderes. Eines Tages sah mich Herr Su, ein Anführer der Triaden ... eine Art Bandenchef. Herr Su fand Gefallen an mir. Er kaufte mich Herrn Cheng ab, aber er war ein besonders grausamer Mann. Es bereitete ihm Freude, mich zu quälen und zu erniedrigen. Doch dann kam Roger. Er war zunächst einer meiner ... Gäste. Dann rettete er mich aus der Gewalt von Herrn Su.«
»Wie hat er das bewerkstelligt, Madame?«
»Er hat mich, um genau zu sein, von Herrn Su bei einem Glücksspiel gewonnen, das Poker genannt wird. Er brachte mich außer Landes und nahm mich zur Frau. Ich bin ihm sehr dankbar.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Madame!« Holmes blieb unerschütterlich höflich. »Auch wollen wir Ihre Geduld nicht über Gebühr beanspruchen. Nur noch ein paar nebensächliche Fragen. Haben Sie keinerlei Angehörige in England?«
»Nein, Mr. Holmes, keine. Ich bedaure dies sehr. Aber ich will nicht undankbar sein. Für eine Frau wie mich ist es ein großes Privileg, in England leben zu dürfen.«
»Dann würde mich nur noch interessieren zu erfahren, was Sie über das Gespenst von Henstiffle Bow Hall wissen.«
»Ich weiß nichts darüber. Ich habe es auch nie gesehen, obwohl ich weit davon entfernt bin, anzunehmen, dass die Große Tante – also Mrs. Thorndyke – sich den Besuch des Gespenstes nur einbildet. Geister – Fuchsgeister, die Geister Verstorbener und andere – sind sehr lebendig in der Vorstellung der Chinesen. Die Große Tante spricht mit mir jedoch nur selten. Ich fürchte, sie verachtet mich, weil ich im Blauen Haus lebte. Außerdem betrauert sie den Tod ihres Ehemannes und ihres kleinen Hundes. Sie leidet sehr unter diesen Verlusten. Daher kann ich Ihnen leider nichts Genaues sagen. Ich spreche auch nur schlecht Ihre Sprache.«
»Madame, wir danken Ihnen!« Holmes erhob sich. Ich verneigte mich tief und wir gingen hinaus. Draußen wartete das Mädchen. Es blieb wieder stumm, knickste und begab sich zu seiner Herrin.
Wir verabschiedeten uns von Mrs. Thorndyke. Wir würden, versprachen wir, wiederkommen, sobald sich etwas Wichtiges ereignet hätte. Sie erwiderte unseren Abschiedsgruß und rief Jennings, der uns zum Bahnhof bringen sollte. Dann geleitete uns Ai zur Tür.
Holmes zog eine Visitenkarte aus der Tasche. Mit dem Bleistift schrieb er etwas auf die Rückseite. Ai schaute sich die Zeichen an und erstarrte, sagte aber nichts.
»Sie brauchen nicht auf uns zu warten«, meinte Holmes leichthin zu Jennings, als wir am Bahnhof angekommen waren.
»Die Misses hat mich eigens beauftragt, Sie auf den Bahnsteig zu begleiten und nicht eher nach Hause zurückzukehren, als bis Ihr Zug abgefahren ist.«
»Wir danken Ihnen, Jennings!«
Wir blieben am Fenster stehen, bis der Zug anrollte. Jennings wartete, vom trüben Licht der Gaslaternen auf dem Perron beleuchtet, auf unsere Abfahrt. Erst als der Zug Fahrt aufgenommen hatte, verließ er
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