Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
laden, wegen der Laderamme, die man dafür braucht, aber mit einiger Übung kann man sicher alle sechs Kartuschen innerhalb weniger Minuten in die Trommel hineinpraktizieren. Wer konnte, hatte daher immer mehrere geladene Trommeln bei sich. Der Austausch der Trommeln geht schneller als das Neuladen.
Holmes ließ es sich nicht nehmen, die Waffe auch einmal auszuprobieren. Er trug sie dazu sogar unter seinem karierten Inverness-Cape wie ein echter Westmann im Lederholster an der Hüfte. Wir fuhren eigens hinaus in das Jagdrevier eines Lords, der uns noch einen Gefallen schuldete. Nur ein verwunderter Waldhüter begleitete die beiden Herren, die mit einem seltsamen fußlangen Schießeisen auf leere Biscuitdosen feuern wollten. Die hatte ich spendiert, denn ich besaß sie im Überfluss, da ich meine Vorliebe für Süßigkeiten leider nie überwinden konnte.
Den Blechdosen geschah wenig Leid, obwohl Holmes ein viel besserer Schütze war als ich. Wenn die Zielgenauigkeit dieser Donnerbüchse ebenso groß gewesen wäre wie ihr Rückstoß und die Rauchentwicklung, hätte sie sicher eine recht brauchbare Waffe abgegeben.
»Ich hätte wenig Angst«, meinte Holmes, »mich damit auf fünfzehn Schritt mit Ihnen zu duellieren, Watson. Selbst wenn Sie diese Waffe in Händen hielten, wären meine Überlebenschancen noch außerordentlich hoch. Umgekehrt wäre es übrigens genauso. Nicht einmal ein Elefant müsste sich auf diese Entfernung Sorgen um seine Gesundheit machen. Dieser Colt schießt überall hin, nur nicht dahin, wohin man zielt.«
»Es ist eben eine amerikanische Waffe. Hier, nehmen Sie sie mit Dank zurück. Sie reicht vielleicht, wenn man nicht zufällig eine Kunstschützin ist, gerade noch zum Erschrecken von ein paar Indianern, mehr aber auch nicht. Donnerwetter!« Ich hatte den Colt am Lauf gehalten, als ich ihn Holmes zurückgab, und er hatte ihn genommen, mehrfach sehr schnell rückwärts um den Zeigefinger wirbeln und passgenau im Holster verschwinden lassen. Ein Kniff, den er sich bei einigen echten Cowboys abgeschaut hatte, denen wir damals begegnet waren.
»Ich bleibe trotzdem lieber bei meiner Webley. Hat zwar nur fünf Schuss und Kaliber 40, aber ich kann mich wenigstens auf sie verlassen. Auch meine Frau hat nichts gegen sie, weil sie leicht ist und ihr Lauf keine Löcher in die Hosentaschen bohrt.« Ich zog das gute alte Stück aus der Manteltasche, spannte den Hahn, zielte und schoss. Und noch einmal und noch einmal. Von den sechs mitgebrachten Dosen traf ich vier, ein Schuss ging fehl. »Sehen Sie!«
»Ausgezeichnet, Watson! Damit wäre die Frage, ob wir unsere Bewaffnung umstellen sollten, wohl erledigt. Was halten Sie von einem verspäteten Nachmittagstee? Die Schokoladenkuchen von Monsieur d'Urbanville sind bekanntlich unübertroffen!«
Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Melancholisch verstaute ich den Colt wieder in der Schublade und kletterte zurück in meinen Rollstuhl. Verdammte Beine!
Damals hatte mir mein Freund das Versprechen abgenommen, keinen Bericht über den edlen Spender des Colts zu schreiben. Aber nun, da fast alle an dem Fall Beteiligten längst ins Grab gesunken sind, fühle ich mich nicht länger an dieses Versprechen gebunden. In jenem Fall hatte der ansonsten unfehlbare Detektiv einen kleinen, aber nicht unerheblichen Fehler begangen, der ihn fast das Leben gekostet hätte. Er zeigte darüber hinaus, dass sich Sherlock Holmes außerhalb des ihm vertrauten Milieus, außerhalb seines ureigensten Terrains, wie ein Fisch auf dem Land fühlte. Seine bewährten Methoden funktionierten nur innerhalb der englischen Gesellschaft, deren Usancen er mit traumwandlerischer Sicherheit beherrschte. In der Welt eines Zirkus etwa, unter bunt zusammengewürfelten Artisten aus aller Herren Länder dagegen, da drohten sie zu versagen.
Dies, und nicht etwa die Rücksicht auf Empfindlichkeiten der damals beteiligten Personen war der eigentliche Grund, warum ich nicht über den Fall berichten sollte. Wie sagte damals unser berühmter Klient? Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd. Dieses schnelle Pferd wollte ich noch ein letztes Mal besteigen. Ich öffnete die Türen des Manuskriptschrankes und begann zu suchen. Nicht lange, und ich hatte gefunden, was ich wollte. Da waren sie, die Aufzeichnungen über den Fall. Ich nahm die wenigen Blätter, rollte hinüber zum Schreibtisch und machte mich an die Arbeit.
Der Fall begann mit einer Auseinandersetzung zwischen mir und meinem
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