Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
dahinter stecken?« Holmes ging auf meine Idee ein.
»Mr. Holmes!« Die Stimme von Miss Harmon-Billings nahm einen entrüsteten Tonfall an. »Dann wäre es doch sinnvoll gewesen, mich zu entführen, statt meiner Mutter. Ich kenne hier niemanden, der mir das Lösegeld geben könnte, und auf unserem Familienbesitz in England bin ich zuletzt als Kind gewesen!«
Holmes gab sich lächelnd von dieser Logik geschlagen. »Wenn wir uns morgen nicht sehen, Watson, statten Sie der Britischen Botschaft einen Besuch ab und stellen sicher, dass unser Gast alle für die Rückreise notwendigen Papiere erhält. Am besten, Sie bleiben ihr lieber Onkel! Ich muss noch ausgehen.« Er nahm seinen Mantel und verschwand. Grußlos, denn er hatte Witterung aufgenommen. Ich dagegen begab mich zur Rezeption, um mit meinen rudimentären Sprachkenntnissen ein Quartier für unsere junge Dame zu organisieren. Miss Harmon-Billings fand trotz meinem mangelhaften Französisch noch ein Bett, wenngleich nur unter dem Dach, in einer Gesindestube. Holmes' Mahnung folgend, trug sie sich als Beth Valet ein.
Auf einem meiner Gänge verirrte ich mich etwas und hatte eine seltsame Begegnung. Vor Eröffnung der Weltausstellung hatte die Polizei regelrecht Jagd auf Bettler und Obdachlose gemacht, die man hier Clochards nennt. Das ästhetische Empfinden der Reisenden aus aller Welt sollte nicht gestört werden. Deshalb wunderte ich mich sehr, als ich hinter dem Hotel einen solchen Clochard in den Abfalltonnen herumwühlen sah, wahrscheinlich auf der Suche nach Essensresten. Als er mich sah, streckte er eine schmutzige Hand aus. Ich legte den einzigen Franc hinein, den ich lose in der Tasche trug.
» M'ci b'coup, chef«, murmelte er.
Holmes erschien erst am folgenden Tag wieder, als wir gerade, erschöpft von der Auseinandersetzung mit der britischen Bürokratie, von der Botschaft zurückkehrten und in der Hotelhalle einen Tee nehmen wollten. Triumphierend legte er ein schmutziges Perpendikel aus Messing mit einem Reiter am Ende sowie einen Holzsplitter neben Beths Teetasse.
»Das ist von der Uhr«, entfuhr es ihr. »Und das von dem Zitronenholztisch! Wo haben Sie das her?«
»Später, Beth! Dies ist übrigens die Medizin von Doktor Benassis.« Er zog das Fläschchen aus der Jacke, öffnete es und nahm einen kräftigen Schluck. »Bester französischer Pastis! Doch nun noch eine Frage: Der Name des Mannes, mit dem der Direktor und dieser Arzt sprachen, könnte der auch Tirard gelautet haben? Nicht Tierarle?«
»Möglich. Wie gesagt, ich konnte durch die geschlossene Tür nur wenig verstehen.«
»Tirard, ich dachte es mir. Watson! Vielleicht zeigen Sie heute Nachmittag Ihrer Nichte einmal die Weltausstellung. Ein Franc Eintritt pro Person scheint mir wahrlich nicht zu teuer für die Festigung der jungen Familienbande.«
Manchmal war mein Freund unausstehlich!
»Ich muss noch einige anregende Stunden im Hause Labrouste verbringen.«
»Wer ist Labrouste? Ich ...«
»Ein Architekt, Watson, nichts weiter. Ich melde mich.«
Er stand auf und ging zur Tür. Auf halbem Weg hielt er inne, kehrte um und legte eine Münze auf den Tisch. »Vielen Dank übrigens für Ihre Großherzigkeit!« Sein Grinsen reichte bis zu den Ohren! Dann war er wieder verschwunden. Wieder einmal war ich auf seine Verkleidungskünste hereingefallen!
»Was meint er damit?«, fragte Beth.
»Es handelte sich um ... einen kleinen Privatkredit«, erklärte ich. Da ich Holmes' Idee ansonsten gar nicht so schlecht fand, zog ich den Weltausstellungsprospekt aus dem Jackett, den ich als Souvenir beim Eintritt erworben hatte. Donnerwetter! Da stand es! »Tirard! Pierre Tirard!«
»Wer ist das?«, fragte Beth.
»Niemand Wichtiges. Nur der Generalkommissar der Weltausstellung.« 19
Beth sah mich fragend an. Wir beugten uns über den Prospekt, aber das half uns auch nicht weiter. Um den Tag nicht nutzlos verstreichen zu lassen, kleidete ich mich um und fuhr mit Beth zum Weltausstellungsgelände. Leider ließ ich das Pendel und den Holzsplitter auf meinem Nachtschränkchen liegen. Als ich wiederkam, war beides fort.
»Ich hatte etwas Derartiges fast erwartet«, meinte Holmes, als wir uns wieder trafen. »Aber dazu später. Ich besuchte also Monsieur Labrouste, wie ich ironisch anmerkte. Er hat nämlich 1873 in der Rue Richelieu die Bibliothèque nationale errichtet. Im Lesesaal unter den neun stählernen Kuppeln sah ich einige Bücher sowie internationale Zeitungen ein. Außerdem überzeugte
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