Sherry Thomas
doch ein anständiger Mensch. Seine Aufmerksamkeit
schmeichelte ihr, was sie dabei empfand, war allerdings nicht in erster Linie
der Eitelkeit geschuldet. Sie genoss seine Gesellschaft aufrichtig.
Drinnen hatte man im Salon des
Südflügels den Tee serviert. Ein Feuer brannte im Kamin und verbreitete eine
gemütliche Atmosphäre.
»Weil ich bei unseren Unterhaltungen
so beschäftigt damit war, Sie auf die Fehler in Ihren Gedankengängen
hinzuweisen, habe ich doch ganz vergessen, Ihnen zum Geburtstag zu gratulieren,
Eure Gnaden.«
»Da befinden Sie sich in bester
Gesellschaft: mit ungefähr zweihundert meiner engsten Freunde«, erklärte
er trocken. »Früher habe ich zu meinem Geburtstag jedes Jahr ein
richtiggehendes Gelage auf Ludlow Court veranstaltet.«
»Vermissen Sie solche wilden
Feiern?« Es ist ja fast unmöglich, das nicht zu tun, überlegte sie. Sie
selbst hatte so etwas nie erlebt und vermisste es dennoch.
»Manchmal. Aber die Folgen vermisse
ich ganz und gar nicht. Dieses Zimmer musste in elf Jahren sechsmal neu
tapeziert werden.«
Victoria musterte die Wände. Die
Damastbespannung zeigte heutzutage ein anderes Muster – Bärenklau statt Lilien
–, allerdings war mit Bedacht eine Farbe für den Hintergrund ausgewählt worden,
die das Seladongrün fast genau traf, an das sie sich von früher erinnerte. Daher
sah der Salon auch noch fast genauso aus wie vor dreißig Jahren, als sie hier
mit dem Kopf voll wilder Flausen zum Tee eingeladen worden war. »Erstaunlich,
wie wenig sich dennoch geändert hat.«
»Vertrauen Sie mir, in meinen großen
Zeiten war das überhaupt nicht so. Da gab es ... andere Motive auf der Tapete
zu bewundern.«
Er lächelte, und ihr Herz klopfte
heftig. Trotz der Weisheit ihrer Jahre war sie furchtbar neugierig, was sein
vergangenes Leben als Casanova anging. Die kleinste Andeutung, und ihre Fantasie
schlug Purzelbäume. Außerdem lächelte er dazu gerade noch sein verführerisches
Lächeln ... tja, da würde sie mit Sicherheit heute Nacht nicht viel Schlaf
bekommen.
»Die alte Wandbespannung habe ich
auswechseln lassen, kurz nachdem ich mich aus der Gesellschaft zurückzog. Ich
ließ alles nach meiner Erinnerung und alten Fotografien genau nachahmen. Doch
dann fand ich es grässlich.« Er nahm einen Schluck Kaffee – vor ein paar
Wochen hatte er endgültig aufgehört, so zu tun, als wäre er ein Teetrinker, und
zugegeben, dass er das Zeug nicht herunterbrachte. »Also habe ich das eine oder
andere in meinem Sinne verändert.«
»Die Vergangenheit fordert einem
manchmal schrecklich viel ab«, entgegnete sie leise.
Der Duke drehte einen unbenutzten
Teelöffel hin und her, hoch und herunter. Sein Schweigen war seine Antwort.
Langfords freiwilliges Eremitendasein hatte durchaus auch den Charakter einer
Selbstbestrafung. Doch so musste es nicht weitergehen. Jetzt nicht mehr.
»Meine Tochter beschäftigt einen
Privatdetektiv.« Gigi regelte die Dinge auf ihre ganz eigene, sehr moderne
Weise. Hoffentlich fragte der Duke nicht nach, wozu sie diesen Schnüffler
brauchte. »Ich habe ihn um Hilfe gebeten in einer Sache, die mit Ihnen zu tun
hat.«
Er hob die Brauen. »Falls Sie wissen
wollten, wieso Lady Wimpeys Bett auf einmal in Flammen stand, müssen Sie mich nur fragen.«
Noch vor einem Monat wäre sie jetzt
errötet. Heute zuckte sie bei dieser Bemerkung mit keiner Wimper. »Tatsächlich
interessierten mich mehr die im Ausland hergestellten Instrumente
zweifelhaften Zwecks, denen Lady Fancot offenbar zugeneigt war.«
»Dabei handelte es sich lediglich um
samtgefütterte Handschellen – wahrscheinlich tatsächlich im Ausland
hergestellt, aber wohl kaum von zweifelhafter Verwendung.«
»Lieber Himmel, die Frau ist ja
nicht ganz richtig! «, rief Mrs. Rowland indigniert. »Ein fest gewebter
Seidenschal ist wohl nicht gut genug für sie?«
Fast hätte er den Kaffee über den
gesamten Tisch verschüttet. Mrs. Rowland zwang ihn wirklich dazu, immer wieder
neu zu überdenken, was es eigentlich genau bedeutete, wenn man eine Dame als
tugendhaft bezeichnet. Offenbar war erotische Experimentierfreude in respektablen
englischen Ehen sehr viel weiter verbreitet, als man gemeinhin annahm.
»Aber ich schweife ab«, sagte
sie und kehrte zu ihrer üblichen damenhaften Haltung zurück, hinter der sich
die unglaublichsten Erfahrungen und Neigungen verbergen mochten – eine äußerst
erregende Mischung. In seiner Jugend hätte der Duke bereits zahlreiche
Schlachten geschlagen, um
Weitere Kostenlose Bücher