Sherry Thomas
faszinierende Mann schätzte sie genug, dass er
sie um ihre Hand bat. Sie!
»Darf ich Ihr Schweigen so deuten,
dass Sie meinen Antrag annehmen?«
»Sie unterstellen zu viel«,
erklärte sie boshaft.
»Ich habe einwandfrei nachgewiesen,
dass ich Sie nicht zu meiner Frau machen will, um die Wünsche meiner Mutter
übers Grab hinaus zu erfüllen. Und Sie haben noch vor zwei Minuten selbst
gesagt, dass Sie keinerlei andere Einwände haben.« Er unterbrach sich,
und in seinen Augen funkelte es. »Ah, wahrscheinlich erwarten Sie, dass ich
mich noch mehr anstrenge. Tja, eigentlich war ich einmal ein Experte darin, wie
man eine Frau verführt. Wenn ich mich nur noch daran erinnern könnte. Wie ging
das doch gleich? Erst küssen und dann ins Bett oder umgekehrt?«
Es gelang ihr, zumindest ansatzweise
schockiert zu wirken. »Wie ich bereits sagte, Sir, Sie müssen ein sehr behütetes
Leben geführt haben. Übrigens, um Ihre Frage zu beantworten: beides. Ich kann
es wirklich nicht fassen, jawohl, nicht fassen, dass Sie das nicht besser
wissen.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Warum
nur habe ich mich nicht schon früher an tugendhafte Damen gehalten? Nun, jetzt
werde ich in der Beziehung alles wieder aufholen, was ich versäumt habe.«
Damit küsste er sie.
Sein Kuss war weder zart und
flüchtig, wie sie ihn sich als Mädchen vorgestellt hatte, noch voll der
sündigen Leidenschaft, von der sie seit einer Weile träumte. Er küsste sie mit
staunendem Entzücken, eben wie ein Mann, der nach langer Zeit endlich am Ziel
seiner Herzenswünsche angekommen ist.
Und natürlich brachte er sie zum
Schmelzen vor Glück. Nach einer Weile gab er ihre Lippen wieder frei. »Und nun
sag ja«, drängte er.
»Auf keinen Fall«, hauchte sie.
»Ich gebe doch meine Unabhängigkeit nicht wegen eines Kusses auf, mag der auch
noch so köstlich gewesen sein. Sie dürfen nicht vergessen, Eure Gnaden, dass
ich einmal eine verheiratete Frau gewesen bin. Eine glücklich verheiratete
Frau. Daher werden Sie mich schon noch ein wenig mehr von Ihren Qualitäten überzeugen müssen, die
übers Küssen hinausgehen, wenn Sie mit mir vor den Altar wollen.«
Amüsiert lachte er und schaute zum
anderen Ende des Raums, wo ein kleines Sofa stand, das mit cremefarbenem Brokat
bezogen war.
»Nun gut.« Er küsste sie noch
einmal. »Sie sollten sich besser gut überlegen, was Sie sich wünschen, Mrs. Rowland.
Es könnte in Erfüllung gehen.«
Kapitel 28
8. September 1893
Von New York schwirrte Gigi der Kopf,
und ihr wurde fast übel.
Obwohl sie gelesen hatte, dass die
Stadt sich als neues Paris sah, hätte sie nie geglaubt, dass sie fast eine
Kopie ihres europäischen Vorbilds war. Einige Viertel von New York mit ihren
neoklassizistischen Gebäuden und den floralen und mythologischen Reliefs
hätten auch am rechten Seineufer stehen können. Ja, eine Kirche, an der sie auf
ihrem Weg zum Hotel vorbeigekommen war, dürfte zweifellos nach dem Vorbild von
Notre Dame erbaut worden sein.
Ihr Atem ging schwer, obwohl sie so
langsam ging, wie ein neues Gesetz die Kammern des englischen Parlaments
durchlief. Auf den Straßen herrschte Dauerverkehr, sodass unablässig ein Chor
aus Hufgetrappel und Wagenrädern auf den Pflastersteinen erklang. In der Nähe
war ein Zug zu hören. Die Luft war zwar sauberer als in London, trotzdem nahm
man auch hier deutlich den Geruch nach Pferden und Fabriken wahr, in den sich
die einigermaßen exotischen Aromen von Räucherwürsten und Senf mischten.
Gigi inspizierte alle Hotels,
Schaufenster und Millionärsvillen höchst genau, die sich an der unteren Fifth
Avenue aneinanderreihten. Dennoch hatte sie den zurückzulegenden Weg viel zu
schnell hinter sich und stand plötzlich vor der gesuchten Adresse. Verzweifelt
umklammerte sie den Griff ihres Sonnenschirms aus Walfischbein und zwang sich,
den Blick von der gegenüberliegenden Straßenseite abzuwenden.
Unmöglich, sie musste sich wohl doch
in der Adresse geirrt haben. Camden mit seiner perfekten Erziehung war immer so
bescheiden und kontrolliert gewesen in allem, was er tat. An dem
beeindruckenden Gebäude, vor dem sie stand, war nichts, aber auch gar nichts
bescheiden. Stattdessen sah es aus, als hätte man den Stammsitz eines Adligen
aus dem Herzen Europas hierher verpflanzt. Die Fassade bestand aus perlgrauem
Granit, das keck vorspringende Dach aus dunkelblauem Schiefer. Die Sonne
spiegelte sich in den Fenstern und ließ sie leuchten wie die Augen einer
flirtenden
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