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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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kopiert und an meine früheren Zechkumpane von
der Konkurrenz weitergereicht werden. Heutzutage tun die Leute ja alles für
Geld. Als ich vor vierzig Jahren zum KGB gekommen bin, hab ich es nicht für
Geld getan. Vielleicht für Macht und Privilegien, aber selbst das war nicht so
wichtig. Es war eine sehr bewegte, interessante Zeit! Jeden Tag gab es neue
Aufgaben. Wir haben damals Zeitungsartikel zensiert, die Lieder der
Kneipenmusiker überprüft, nach illegalen Zeitschriften der Dissidenten
gefahndet, emigrierende Juden daran gehindert, weiterhin geheime Informationen
in den Westen zu schmuggeln ...«
    Taras ist Karpows langatmige Rückerinnerungen schon
gewohnt. Erst stimmt Karpow ein Loblied auf die gute alte Zeit an, dann folgt
meist die Ankündigung, den Geheimdienst verlassen zu wollen: »Alles hat sich
geändert, Taras - die Methoden, die Vorgehensweise und dass die Leute die
Seiten wechseln. Ich verspreche Ihnen, morgen trete ich zurück. Ich ziehe mich
in unsere Datscha in Malachowka zurück, verwandle den Gemüsegarten meiner Frau
in englischen Rasen und habe endlich Zeit, historische Autobiographien zu
lesen. Beginnen werde ich mit Marschall Schukows Buch - glücklicherweise
besitze ich die Erstausgabe von 1969!«
    Manchmal hebt Karpow aber auch die Freuden und Gefahren
des Eis-Angelns hervor. Und gelegentlich doziert er über die miserable Qualität
des Geschichtsunterrichts, den sein Enkel in der Schule erhält.
    Taras wartet.
    Sein Chef macht sich über die Dessertschale mit
Zitronenwackelpudding her. Taras überlegt, wie lange es wohl dauern wird, bis
er seinen ersten Bissen geschluckt hat. Das auf dem Teller verbliebene größere
Stück wackelt, und Karpow zuckt zusammen. Entweder weil seine
Geschmacksknospen endlich auf den Pudding reagieren oder weil ihm das Gewackel
gegen den Strich geht - Karpow ist ein sehr akkurater Mensch. Er faltet die
Papierserviette auseinander, wischt sich die Lippen und räuspert sich. Mit
einem quakenden Geräusch hustet er Schleim ab. »Recht interessant, dieser Fall
N 1247«, sagt er schließlich. »Vor allem der Bericht über die Reise dieser dewiza Sofia.
Muss ja ein ziemliches Wagnis gewesen sein, vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten
allein durch Europa zu reisen. Wie viel mag bei diesem Abenteuer für sie auf
dem Spiel gestanden haben? Man bedenke übrigens, dass das Wort dewiza sowohl
»Jungfrau« als auch »junges Mädchen« bedeutet hat. Erst als die Reinheit und
Lauterkeit aus unserer Gesellschaft verschwand, hat das Wort seine Bedeutung
geändert und wird nun für eine gewisse Art von Mädchen gebraucht. Interessante
Wandlung, nicht wahr?« Jetzt wendet Karpow den Blick von seinem Wackelpudding
und fixiert Taras mit seinen wässrig blauen Augen. »Haben Sie die Akte
aufmerksam gelesen, Leutnant?«
    »Ja, Nikolaj Petrowitsch«, erwidert Taras. Eigentlich
sollte er seinen Boss mit »Oberst« ansprechen, aber dem Mann ist es lieber,
wenn man ihn mit Vor- und Vaternamen anredet; das klingt nach Nähe und Wärme,
fast familiär. Ob er wohl weiß, denkt Taras, dass er im Archiv den Spitznamen
»Papa« hat?
    »Nun ja, Sie sind Historiker, Taras, ich würde gern Ihre
professionelle Meinung hören«, fährt Karpow fort und beäugt misstrauisch
seinen braunfarbenen Drink, in dem getrocknete Fruchtstückchen herumschwimmen.
    Taras versteht die Frage. Oder vielmehr, was
dahintersteckt. Jetzt muss er behutsam vorgehen.
    »Ich finde es wirklich erstaunlich«, beginnt er, »dass die
über zweihundertfünfzig Jahre hinweg so gewissenhaft betriebenen Nachforschungen
so abrupt abbrachen und der Akte seit 1962 nichts mehr hinzugefügt wurde. Wie
Sie wissen, ist der Fall noch nicht abgeschlossen, und neue Ermittlungen zum
jetzigen Zeitpunkt könnten schädlich sein.«
    »Tödlich, mein Junge, sie könnten tödlich sein!«
Karpow betont das letzte Wort, hebt den Blick von seinem Glas und sieht Taras
direkt an. In diesem Stadium bedarf es keiner weiteren Klarstellung. Sie haben
einander verstanden.
    »Wissen Sie«, fährt Karpow fort, »als ich zum Geheimdienst
gekommen bin, spielte es keine Rolle, ob meine Kollegen Georgier, Usbeken oder
Ukrainer waren. Wir haben alle zusammengearbeitet, wir waren ein Team. Ich
weiß noch, wie es manchmal hieß, dass die Pjataja
Grafa, die fünfte Rubrik auf allen amtlichen Vordrucken, nämlich
die für die Nationalität, mehr war als einfach nur ein Punkt von vielen. Es
war ein Verdikt: Wenn Punkt 5 nicht richtig beantwortet war, hatte man

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