Shevchenko, A.K.
die Bücher beugen. Dieser Rentner liest immer bis tief in die Nacht, macht
sich Notizen, und neben ihm stets der weiße Umriss einer Teetasse. In seinem
Alter ist das erfundene Wort die einzige Zuflucht vor den tiefgreifenden
Veränderungen im Land. Auch Taras muss etwas lesen. Er lässt seinen braunen
Aktenkoffer aufschnappen - echtes Leder, nicht Synthetik, das Erste, was er
sich gekauft hat, als er seine neue Stelle antrat - und entnimmt die Notizen.
Heute hat er vier Stunden damit verbracht, ein paar Dokumente aus den Akten
abzuschreiben. Er zieht das erste Dokument heraus:
Bericht über das Verhör von Oxana Polubotok, geboren am
23. 03.1943
Kiew 18. März 1962
Fazit und Beschluss
Weiterhin überwachen Isolation empfehlenswert
Überleben sicherstellen, falls Identität in Zukunft noch
benötigt wird.
4
Kiew, März 1962
Das monotone Dröhnen geht ihr auf die Nerven. Sie öffnet
die Augen. Obwohl auf dem Schreibtisch des Vernehmungsbeamten dieser monströse
Ventilator surrt, ist der fensterlose Raum von Zigarettenrauch eingenebelt.
Die auf ihr Gesicht gerichtete Lampe blendet sie. Sie kann ihn nicht sehen. Sie
stellt sich ihn als riesigen Fisch vor. Glasige, ausdruckslose Augen.
Glitschige Schuppen. Unförmiger, keuchend aufgerissener Mund.
Er verfügt über ein erstaunliches Durchhaltevermögen,
dieser KGB-Vernehmungsbeamte. Sie hat keine Ahnung, wie lange sie schon hier
ist; sie hat keine Ahnung, was er von ihr will.
»Ihr Name.«
»Oxana Polubotok.«
»Geburtsdatum?«
»23. März 1943.«
»Beruf?«
»Studentin.«
»Genauer!«
»Ich studiere im zweiten Jahr Geschichte an der
Universität Kiew.«
»Sind Sie verwandt mit Anatolij Polubotok?«
»Ja, er war mein Großvater.«
»Was wissen Sie über ihn?«
»Nur, dass er 1937 starb. Er wurde als Vaterlandsverräter
erschossen.«
»Sind Sie verwandt mit Oleg Polubotok?«
»Ja, er war mein Vater.«
»Können Sie sich noch an ihn erinnern?«
»Ja, ich kann mich noch gut an ihn erinnern. Ich war zehn,
als er verhaftet wurde, einen Monat vor Stalins Tod. Er wurde erst ein Jahr
später entlassen und starb an Tuberkulose, auf dem Heimweg nach Magadan, 1954.«
»Wussten Sie, dass er Ahnenforschung betrieb?«
»Ja, er war immer stolz auf unsere kosakischen Wurzeln.«
»Was hat er Ihnen über seine Forschungen erzählt?«
»Nur, dass unser Familienname eventuell das Schicksal
unseres Landes ändern könnte.«
»Hat er je einen Brief nach London geschickt?«
»Ja. 1953, vor seiner Verhaftung. Er hat es damit
begründet, dass er den Namen meines Großvaters rehabilitieren wollte.«
»Hat er je eine Antwort erhalten?«
Allmählich ermüdet sie das. »Sie wissen ganz genau, dass
er keine Antwort erhielt. Er wurde einen Monat später verhaftet.«
»Haben Sie einen Brief nach London geschickt?«
»Ja. Vor drei Monaten.«
»Warum haben Sie sich jetzt dazu entschlossen?«
»Naja, ich dachte, die Zeiten hätten sich geändert, weil letztes
Jahr in so vielen Publikationen die Wahrheit über Stalins Herrschaft stand. Ich
wollte einfach nur beweisen, dass mein Großvater kein englischer Spion war und
dass mein Vater nicht versucht hat, irgendwelche Dokumente zu fälschen. Warum
sollte ich nicht versuchen, ihre Namen reinzuwaschen? Es ist wichtig, sie zu
rehabilitieren, um meiner Mutter willen, um meiner zukünftigen Kinder willen.«
»Besitzen Sie irgendwelche Dokumente, die diesen Fall
betreffen?«
»Nein.«
»Haben Sie jemals Briefe aus London empfangen?«
»Nein.«
Pause. Der Rauch wird immer dichter, man bekommt kaum noch
Luft. Wie lange wird man sie noch hierbehalten?
»Ihr Name.«
»Oxana Polubotok.«
»Geburtsdatum?«
Sie schließt die Augen. Sie braucht Luft und Wasser und
Schlaf. Die werden sie bald gehen lassen, und sie wird diese verräucherte Hölle
vergessen wie einen absurden Albtraum. Nur ihr nach Rauch stinkendes Kleid wird
sie daran erinnern, dass es diese Nacht wirklich gegeben hat.
Wird man ihr gestatten, das Gebäude durch das Drehkreuz zu
verlassen wie eine ganz normale Sekretärin, die Überstunden machen musste,
oder wird man sie wieder in diesen Brotlieferwagen stoßen und irgendwo in der
Stadt absetzen?
Es war alles so schnell gegangen. Sie hatte an der Uni
einen Lyrikabend besucht und sich auf den Heimweg gemacht. Als sie nach
Mitternacht ging, war immer noch die Hälfte des Publikums da. Der Abend war
eine Offenbarung gewesen. Junge Moskauer Poeten rezitierten in einem ganz
anderen Stil
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