Shevchenko, A.K.
fast
keine Chance, einen guten Studienplatz zu kriegen und Karriere zu machen. Aber
am schlimmsten war es, ehrlich gesagt, wenn man Jude war. Wer hätte gedacht,
dass die Nationalität, die eigene Pjataja Grafa, heutzutage
eine Beförderung verhindern würde!« Obwohl Karpow bei diesen Worten beharrlich
auf sein Glas starrt und Taras nicht ansieht, ist sich der junge Mann absolut
sicher, dass Karpows letzter Satz sehr persönlich gemeint und nur an ihn,
Taras, gerichtet ist.
»Wir könnten versuchen, den Schaden zu beheben, Taras.«
Karpow fischt vorsichtig eine schrumplige Apfelscheibe aus seinem Drink und
legt sie auf den Teller, neben die Reste des Zitronenwackelpuddings.
Wenn er »wir« sagt, überlegt Taras, wer ist damit gemeint?
»Ich und er« oder »er und seine unsichtbaren, mächtigen Zechkumpane«?
»In drei Tagen ist der Internationale Frauentag«, sagt
Karpow dann. »Es wird immer schwerer, ein Geschenk für meine Frau zu finden,
nach siebenunddreißig Jahren Ehe. Sie wird entzückt sein, wenn ich ihr sage,
dass das Geschenk diesmal aus England kommt. Allerdings muss sie noch ein
bisschen warten, weil ich eine Woche brauche, um Ihren Pass und Ihr Visum zu
organisieren. Wie gut ist übrigens Ihr Englisch?«
»Ganz okay, Nikolaj Petrowitsch«, nickt Taras und hustet,
um zu verbergen, wie aufgeregt er ist. Seine Reise ist genehmigt.
Karpow braucht nicht zu wissen, dass er im Englischunterricht
an der Akademie mit der englischen Sprache auf Kriegsfuß stand. Dass er beim
Lernen über Mueller's English-Russian Dictionary einschlief
und sämtliche Redewendungen am nächsten Morgen auf geheimnisvolle Weise aus
seinem Gedächtnis gelöscht waren. Er verbrachte Stunden um Stunden damit,
Wörter auf weiße Zettel zu kritzeln und sie überall zu verteilen - sie hingen
über dem Waschbecken, lagen neben seinem Bett, auf seinem Schreibtisch. Er saß
im Sprachlabor, lauschte wieder und wieder den Ausspracheübungen und träumte
von einer kleinen, grauhaarigen Dame in adretter Krawattenbluse. Sie grüßte
Taras vom Cover des Lehrbuchs, verzog die Lippen zu einem Gummilächeln und wiederholte
im Ton eisiger Höflichkeit die immer gleiche Phrase: »Would you
like a cup of tea, Mr Priestley?« Sie war nie mit seiner Aussprache
zufrieden, bemängelte sein rollendes R, sein scharfes S, diese Mrs Priestley.
Taras schauert zusammen, schüttelt einen Albtraum ab.
Auf dem Heimweg erinnert er sich an seinen ersten Fremdspracheneinsatz,
den Praxistest. Hotel Ukrainia, ein Zimmer im Erdgeschoss. Der Wachdienst des
Hotels hat ihn zu Hilfe gerufen, um einen Straßengeldwechsler und einen Farmer
aus Hertfordshire zu befragen. Der Geldwechsler, ein rotzfreches Großmaul,
hatte energisch jede Beteiligung an illegalem Geldumtausch bestritten, wohl
wissend, dass sich das Blatt zu seinen Gunsten wenden würde, wenn er dem
Wachmann später ein Bündel Banknoten zuschob. Der Farmer geriet so in Panik,
dass er kapitulierte. Er hatte nicht gewusst, dass es illegal war, auf der
Straße Geld zu tauschen; mehrere andere Touristen aus seiner Gruppe hätten das
doch auch getan, zu einem viel günstigeren Kurs als dem des Hotels. Taras war
angenehm überrascht: Er verstand den Farmer problemlos - aber der Ärmste
wiederholte sich ja auch ständig. »There was this man ...He came
tome on the street ...He asked me if I wanted to change money ...«
»Wenn doch nur alle Briten so sprechen würden, dann hätte
ich beim englischen Sprachverständlichkeitstest eine bessere Note gekriegt«,
seufzt Taras und betrachtet die Leute auf der Rolltreppe mit prüfendem Blick.
Er konnte Karpow nicht erzählen, dass er sich regelmäßig
zweimal wöchentlich amerikanische Videos anschaute, auf Englisch, mit
russischen Untertiteln. So, wie er seinen Boss kannte, hätte er damit eher
Argwohn als Zustimmung geerntet, und außerdem wäre Karpow von den Untertiteln
(»Oh, Baby, wir haben bestimmt 'ne Menge Spaß miteinander!« - »Hey, Kumpel, du
siehst ja fürchterlich aus!«) bestimmt nicht begeistert gewesen. Taras
beschließt, heute Abend wieder ein paar Videos auszuleihen und sich ab jetzt
die englischsprachige Moscow Times zu kaufen.
Später dann die allabendliche Routine: Hände waschen, in
die Küche, Kessel an, Butter und Käse aus dem Kühlschrank, Brot aus der
Plastiktüte. Er schaut aus dem Fenster.
Fünfter Stock, zweites Fenster weiter rechts: Das Licht
der Leselampe sollte heller sein, dann müsste sich der alte Mann nicht so tief
über
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