Shevchenko, A.K.
als dem optimistischen Rhythmus sowjetischer Lyrik: Die
Satzmelodie strömte dahin, voll unbekannter Sehnsüchte, köstlich dekadenter
Vokale, verbotener Gedanken. Oxana malte sich aus, in einer Wohnung mit hohen
Räumen zu stehen, mit Blick auf die Seine. Nicht in diesem Universitätssaal
voller Menschen - Jungen in modischen Nylonhemden mit schmalen Krawatten,
Mädchen mit Glockenröcken und farblich passenden Haarbändern. Sie trug ihr
grünes Kleid - das Kleid, das ihr ihre Mutter aus dem Seidenstoff ihrer
Großmutter geschneidert hatte. Oxana fragt sich nur, wie Oma es geschafft
hatte, diesen Stoff zu verstecken, ihn über alle Umzüge, Verhaftungen und
Konfiskationen hinüberzuretten. Das Kleid ist die exakte Kopie eines
französischen Modells; sie hat es mal in einem französischen Modemagazin
gesehen, das ihre Freundin mit zu den Vorlesungen brachte: weiche Linien,
Rundhalsausschnitt, weichfließender Rock. Das Kleid hat ein enges Mieder - so
eng, dass sie aufpassen muss; der Stoff sei so alt und mürbe, hat ihre Mutter
gewarnt, dass er reißen könne. Wenn sie also dieses Wunderwerk aus Seide
trägt, muss sie sich langsam und graziös bewegen, mit kerzengeradem Rücken
sitzen und darf nur kleine, sanfte Handbewegungen machen. Niemand käme auf die
Idee, dass der Grund für diese anmutige Haltung - wie die einer Hollywood-Ikone
- zum Platzen gespannte Nähte sind.
Nachdem sie die Universität verlassen hatte, lief sie am
kürzlich umgebauten Theater vorbei und nahm eine Abkürzung, die steilen Stufen
den Berg hinauf. Das Gebäude zur Linken kam langsam näher. Welch finsterer,
grotesker Bau! Man nannte es »Haus mit den Schimären«, aber sie hatte ihm den
Spitznamen »Haus der Albträume« verpasst. Die Statuen, reglos grau bei
Tageslicht, erwachten nachts zum Leben: Elefanten hoben ihre
Regenrinnenrüssel, Meerjungfrauen schluchzten, riesige Frösche hüpften vom
Dach, ein gigantischer Oktopus glitt langsam die Wand hinab auf sie zu. Sie
erreichte das Ende der Stufen und blieb stehen, um Atem zu schöpfen.
Die Nachtluft war eisig. Der Winter wich in diesem Jahr
nur ganz allmählich, doch trotz der Kälte sprachen alle von einem neuen
Frühling - in den Zeitungen war von »politischem Tauwetter« die Rede. Mehrere
Professoren erlaubten ihren Studenten, Lehrbücher teilweise zu hinterfragen;
in Kunstausstellungen betrachtete man kritisch sowjetische Plakate; auf dem
Schwarzmarkt erworbene Vinylschallplatten fragten die Mädchen in perfektem
Englisch: »Are you lonesome tonight?« Schwarz
gehandelte Elvis-Aufnahmen wurden oft gegen einen anderen Schatz eingetauscht
- eine Ausgabe der Inostrannaja Literatura, der
monatlich erscheinenden Zeitschrift mit Übersetzungen von Remarque und
Hemingway.
Auch Oxana empfand Frühlingsgefühle und schritt beschwingt
dahin. Sascha, ihr Verlobter, sollte am Freitag aus Moskau zurückkommen. Sie
konnte es kaum erwarten - nicht nur, weil sie ihn vermisste. Sie hatte eine
ganz besondere Überraschung für ihn: Der amerikanische Pianist Van Clibern
gastierte in der Stadt, und es war ihr gelungen, eine Flasche des lettischen
Parfüms ihrer Mutter gegen drei Konzertkarten einzutauschen - für Sascha, für
sich selbst und für ihre Mutter. Was der Preis dafür gewesen war, musste sie
ihrer Mutter erst noch schonend beibringen. Vielleicht würde sie es auf dem
Heimweg vom Konzert ganz nebenbei erwähnen, wenn ihre Mutter noch ganz in
Freude und Musik aufging, zwei Dinge, die in ihrem Leben so rar geworden
waren. Oxana hatte ihren alten Mantel aufgeknöpft, obwohl ihr Kleid hier
niemand sehen konnte, denn die Straße lag verlassen da - bis auf einen
Brotlieferwagen, der gerade vor der Bäckerei entladen wurde. Sie dachte noch,
dass es für frische Brötchen doch eigentlich zu früh sei, da wurde sie schon
in den Lieferwagen gestoßen. Kräftige Hände, eine rasche Bewegung: Jemand zieht
die zugedeckte Kiste heraus und stößt das Mädchen im grünen Kleid hinein. In
dem Lieferwagen war kein Brot - nur ein stechender, schaler, schweißiger
Geruch. Oxana kam nicht mal dazu, Angst zu empfinden, denn die Fahrt dauerte
gerade mal drei Minuten. Sie hatte ihr ganzes Leben lang in dieser Gegend gelebt,
es war nicht schwer zu erraten, wohin man sie brachte. Stets beschleunigte sie
ihren Schritt, wenn sie an den vergitterten Fenstern des KGB-Hauptquartiers
vorbeikam. Ihren Großvater hatte man nach der Verhaftung hierher gebracht, dann
ihren Vater. Sie hätte nie zulassen sollen, dass ihre
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