Shevchenko, A.K.
ergatterte
sie einen Job in einer kleinen, angesehenen Londoner Anwaltskanzlei.
Als sie schließlich zusammenzogen, entdeckte Kate, dass
aus Philip ein anderer Mensch geworden war - weißes Hemd, Nadelstreifen, ein
höfliches Grinsen statt des entwaffnenden Lächelns, das sie so geliebt hatte.
Sie mieteten ein Haus im richtigen Teil der Stadt - dem Teil, der bei seinen
Arbeitskollegen etwas galt; sie aßen in den richtigen Restaurants und trafen
sich mit den richtigen Leuten. Philip war geschäftlich viel unterwegs, traf
sich mit Klienten zum Dinner, arbeitete bis tief in die Nacht, war, wenn er
heimkam, zu müde zum Reden. Kate holte sich meist irgendwas zum Essen, und wenn
sie dann allein am Tisch saß, befiel sie lähmende Angst, die Furcht eines
Kindes, das in einem dunklen Raum gefangen ist. Angst wegzulaufen, Angst
dazubleiben, Angst zu schreien. Wenn die Beziehung in das »milde« Stadium
übergeht, denkt Kate, wird die Sehnsucht zum ständigen Begleiter: Man sehnt
sich nach kleinen Dingen, die der Liebe Realität verleihen. Ein Blick, eine
Berührung, eine kurze Nachricht ...
Sie zieht die Vorhänge auf und presst Nase und Stirn an
die kalte Fensterscheibe. Das bringt vorübergehend Erleichterung und vermittelt
ihr einen Eindruck, welches Wetter draußen herrscht. Sie wendet sich den
Spiegeltüren des Schranks zu und versucht dabei, dem eigenen Anblick
auszuweichen. Ihr zerwuscheltes braunes Haar erinnert an den groben Fehltritt
eines Friseurlehrlings. Sie muss sich nachher sorgfältig schminken, um die
blauen Augenringe zu verdecken und die Blässe ihres Teints in ein frisches
Apricot zu verwandeln. Bildende Kunst hat in der Schule zwar nie zu ihren
Lieblingsfächern gezählt, aber heute bleibt ihr keine andere Wahl.
Sie zwingt sich, an die Konferenz zu denken. Eigentlich
wollte se erst gar nicht hin, weil sie derlei Veranstaltungen für Zeitverschwendung
hält, aber Carol meinte: »Solche Events sind ein Muss, wenn man Kontakte
knüpfen will, vor allem für eine ehrgeizige junge Anwältin.« Carol findet
immer Argumente, auf die man nichts erwidern kann. »Ehrgeiz wofür? Um so zu
werden wie du?«, hätte Kate fast gefragt, verkniff es sich aber, als sie Carols
zusammengekniffene Lippen sah. Ein Rat von Carol klang immer wie ein
Gerichtsurteil. Kate war dazu verurteilt worden, vier Stunden mit hundert
völlig fremden Personen zu verbringen, die so taten, als lauschten sie all den
hübsch formulierten Gemeinplätzen, welche da vorgetragen wurden. Vielleicht hat
sie ja Glück - bis sie es zur Konferenz schafft, könnte sich ihre Strafe auf
eine Stunde reduziert haben.
Sie weiß, warum sie eingeladen wurde. Bei der Konferenz
geht es um den Wandel in Osteuropa, um »die neue politische Agenda«. Die
Ereignisse in der Ukraine sollten sie eigentlich interessieren - nein, sie
interessieren sie tatsächlich. Es ist nämlich ihr unaussprechlicher
ukrainischer Nachname, dem sie ihren Job verdankt.
Als sich der Eiserne Vorhang hob, wurden viele Ukrainer,
die nach dem Zweiten Weltkrieg aus verschiedenen Gründen, auf verschiedenen
Wegen nach Großbritannien gekommen waren, plötzlich von Heimweh gepackt und
begannen nach Verwandten zu suchen. Sie besuchten die Dörfer und Städte ihrer
Kindheit, entdeckten lang verschollene Verwandte, egal wie entfernt die
Verwandtschaft auch sein mochte, und hinterließen ihnen sogar Erbschaften. Vielleicht
hofften sie, auf diese Weise nach dem Tod wieder in ihre Heimat zurückzukehren.
Viele kehrten tatsächlich zurück, indem sie Geld für ein Begräbnis in ihrem
Geburtsort hinterließen. Einer der Chefs der Anwaltskanzlei, in der Kate jetzt
arbeitete, hatte einen ukrainischen Nachbarn und erkannte rasch die Marktlücke.
Er wusste, dass alte Ukrainer abgeschottet nur unter ihresgleichen lebten. Sie
neigten zur Bildung von Clans, hielten sich strikt an ihre Traditionen und
religiösen Feiertage und brachten den »Fremden« selbst nach langen Jahren im
Ausland immer noch Misstrauen entgegen. Wenn es um ihr Testament und andere juristische
Fragen ging, würden sich diese Leute also eher an eine junge Anwältin mit
ukrainischem Namen wenden als an erfahrene Kollegen namens Smith oder Jones.
Die Heimwehattacken waren ansteckend. Kate chantete zwar
oft das Mantra Es ist unprofessionell, persönlich involviert zu
werden ...Es ist unprofessionell, persönlich involviert zu werden doch sie
hörte sich trotzdem immer öfter Lebensgeschichten an, arrangierte Flüge und
Bestattungen,
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