Shevchenko, A.K.
suchte nach den Verwandten ihrer Klienten, statt sich ganztags um
Testamente und gerichtliche Testamentsbestätigungen zu kümmern.
Sie sprach zwar kein Ukrainisch, liebte aber die Melodie
dieser Sprache und schnappte ein paar Worte auf, die sie von den Gebeten ihrer
Großmutter her wiedererkannte. Babusya war nach
dem Krieg aus Deutschland nach England gekommen. Sie sprach nie über ihre
Vergangenheit. Nur ein einziges Mal hatte sie Kate die Geschichte eines jungen
Mädchens erzählt, das zusammen mit anderen ukrainischen Mädchen von
Nazisoldaten in einen Zug getrieben worden war. Sie war in verschiedene
Zwangsarbeitslager geschickt worden und hatte dann später bei einem deutschen
Bauern gearbeitet. Die Familie des Bauern hatte sie freundlich behandelt und
ihr zum Abschied sogar ein paar Tassen geschenkt. Kate fragte ihre Babusya nie nach
dem Namen des Mädchens, aber seit jenem Tag warf sie jedes Mal, wenn sie ihre
Großmutter besuchte, einen Blick in den Geschirrschrank. Dort, auf dem obersten
Brett, hinter buntbemalten hölzernen pisanki, Ostereiern,
stand der ganze Stolz der alten Dame: ein Meißener Porzellanservice. Zwölf
Tassen und Untertassen, zart geblümt. Die blauen Blütenblätter ähnelten Venen,
die durch aristokratisch blasse Haut schimmern. In Babusyas Haus gab
es noch mehr seltsame, unpraktische, magische Objekte. Schwarz-rot bestickte
Kissen; Plastikblumen von so tiefem Purpurrot, dass sie noch künstlicher
wirkten; eine Ikone in verschnörkeltem Silberrahmen; Bücher in einem fremden Alphabet.
Es war eine Welt der Phantasie, des So-tun-als-ob, des
selbstvergessenen Spiels, das nur unterbrochen wurde, wenn ihre Großmutter
sie sanft, aber energisch zum Essen rief. Eines Tages tat Kate so, als wäre sie
eine Prinzessin, die bei ihrer königlichen Großmutter zum Tee geladen sei.
Graziös wollte sie eine Porzellantasse heben, doch das zerbrechliche Kleinod
entglitt ihren Fingern, fiel - mehr seufzend als klirrend - zu Boden und
zersprang in winzige Stücke.
Die Zeit blieb stehen. Die mandeläugige Madonna zog den
erwachsenen Jesus näher zu sich heran und blickte von der Wand vorwurfsvoll
auf Kate herab. Elf Prachtexemplare auf dem Schrankbrett betrauerten den Tod
des zwölften.
Kates Phantasiewelt bekam etwas Feindseliges. Von jetzt an
war sie eine Bedrohung, ein Eindringling, eine böse Hexe. Selbst eine Stunde
später stand Kate immer noch unter Schock. Sie saß auf dem Sofa, die
Handflächen zwischen die Knie gepresst, und schaukelte vor und zurück. Als
ihre Großmutter versuchte, sie abzulenken, sie zu liebkosen, mit ihr zu reden,
änderte sie nur den nervösen Rhythmus ihres Schaukeins, unter dem das Sofa
knarrte. Babusya musste rasch handeln. Kurz
entschlossen öffnete sie die Schranktür und streckte die Hand nach ihren
geliebten Tassen aus. Eine nach der anderen warf sie nun zu Boden, blickte Kate
dabei unverwandt in die Augen und sagte immer wieder: »Siehst du? Du bedeutest
mir wesentlich mehr als dieses Porzellangeschirr!« Es war ein stiller,
harmonischer Tanz - das Klingen der am Boden zerbrechenden Tassen, die
anmutigen Bewegungen von Babusyas Hand -
eins-zwei-drei-vier, eins-zwei-drei ... Kate hörte auf zu schaukeln und sah
gebannt zu.
Als die sechste Tasse in weiße Scherben zersplitterte,
sprang Kate auf, umschlang Babusyas warmen
Oberschenkel und stimmte betend einen Singsang an. Sie hatte Babusya dieses
Gebet so viele Male flüstern gehört, dass die Worte, die sie zwar auswendig
konnte, aber nicht verstand, wie glänzende Murmeln aus ihrem Mund kullerten, so
als übe sie eine Melodie, die sie zwar schon seit langem kannte, aber noch nie
laut zu singen gewagt hatte. Es war ihr erster Schritt in die Realität, ihre
erste Lektion zum komplexen Thema »Umgang mit Verlust«. Ihre imaginäre Welt
hatte sie entlassen. Babusyas Gebet
wurde zum Ritual, zur Erinnerung an ihre Stärke.
Ein weiteres Ritual war Babusyas Weihnachtssuppe.
Jedes Jahr am 6. Januar versammelte sich die Familie um Babusyas Tisch zum
Heiligen Mahl, der ukrainischen Heilig-Abend-Feier - gemäß dem Gregorianischen
Kalender und der orthodoxen Tradition. Kate liebte diese Feier. Sie war die
Einzige in der Schule, die zweimal Weihnachten feierte und, noch wichtiger,
zweimal haufenweise Geschenke von Babusya bekam.
Das Mahl für die Heilige Nacht, alljährlich ein
Meisterwerk, war eine aus zwölf Gerichten bestehende Fastenspeise, doch Kate
brachte kaum etwas hinunter. Sie wartete auf kutja,
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