Shevchenko, A.K.
es wichtig, ihr einen Besuch abzustatten,
insbesondere bevor der zweite Abschnitt der Operation begann: Sie kannte
bestimmt sämtliche Details der Gold-Story. Und der Akte zufolge wusste sie auch
etwas über Oxana. Das Treffen zu arrangieren war ganz leicht: Sie war berühmt,
obwohl sie nur wenige - umstrittene - Publikationen veröffentlicht hatte, und
sie freute sich immer, wenn sie Besuch bekam. Heute Morgen zum Beispiel war sie
ganz erpicht darauf gewesen, vor einem jungen, hochmotivierten Forscher ihr
Wissen auszubreiten. Taras musste zugeben, dass die Professorin für ihre
achtzig Jahre über ein ganz erstaunliches Gedächtnis verfügte. Sie kannte so
viele Daten, so viele Fakten über die kosakischen Hetmans, dass sogar er, zu
dessen Job es gehörte, geduldig zu sein, fast die Geduld verlor.
Taras hatte bereits jeden einzelnen Buchstaben der
Ehrendoktorurkunde der Universität Harvard studiert, die gerahmt an der Wand
hing; er hatte jedes Hintergrunddetail der Fotos erforscht, die einen zahnlos
lächelnden Jungen zeigten (vermutlich ihr Enkel ... oder Urenkel?); er hatte
die Papierstapel gezählt, die sich neben dem Schreibtisch auf dem Boden
türmten; er hatte vom Rand seiner Tasse einen rostbraunen Teefleck abgerieben,
unter dem eine verblasste goldene Inschrift erschien: Einer der
größten Historikerinnen unserer Zeit von ihren begeisterten Studenten zum
siebzigjährigen Jubiläum; und noch immer war kein Ende
dieses aufschlussreichen Vortrags mit dem Titel »Über die Rolle der Kosakenräte
bei militärischen Entscheidungen« abzusehen. Taras bereute, dass er für seinen
Besuch ausgerechnet dieses Dissertationsthema erfunden hatte, das sich nun als
so ergiebig erwies. Er hätte ein unbedeutenderes Thema wählen sollen, ein
Thema, das nicht so sehr in ihr Forschungsgebiet schlug. Was war er doch für
ein Idiot!
»Mein lieber Junge, Sie sollten sich auch einmal
anschauen, wie die Kosakenräte bei der Wahl eines neuen Stammesführers vorgingen«,
fuhr die Professorin fort. Sie zeigte keinerlei Anzeichen von Erschöpfung. »Die
Kosaken fanden sich am ersten Januar auf dem Versammlungsplatz ein, um zu
essen, zu feiern und dann die Namen der Kandidaten zu brüllen; und die, deren
Namen laut genug gebrüllt wurden, mussten den Platz verlassen und auf das Ergebnis
der Abstimmung warten. Ein interessanter Demokratieansatz, nicht wahr?«
»Parti Maximowitsch«, unterbrach er sie
und trommelte mit den Fingern auf die Pralinenschachtel, die er ihr mitgebracht
hatte, »was halten Sie von all diesen Geschichten über das Kosakengold?
Existiert es denn wirklich?« Er wählte absichtlich Parti: die elegante,
westukrainische Anrede, das klingt beinahe wie Lady Maximowitsch.
Charmante Schmeicheleien lassen keine Frau unberührt, auch nicht eine
weltberühmte achtzigjährige Professorin. Sie räusperte sich und betrachtete ihn
durch ihre dicken Brillengläser. »Sie sind Historiker, mein Junge. Inzwischen
sollten Sie den Unterschied zwischen der Jagd nach Sensationen und der Erkenntnis
historischer Fakten kennen. In meinem langen Leben ist mir diese Geschichte nur
zweimal begegnet. In den sechziger Jahren, ich denke es war 1962, als ich
im Archiv arbeitete, besuchten mich zwei Männer aus Moskau, vom KGB ...« Sie
flüsterte die letzten drei Buchstaben, offenbar immer noch voller Scheu und
Ehrfurcht vor dieser Organisation. »... Sie stellten mir Fragen zu den Nachkommen.
Sie erwähnten den Brief, den sie von der Rechtsabteilung der britischen
Regierung erhalten hatten. In dem Schreiben wurde nach den Namen und Adressen
der Nachkommen gefragt und um einen einfachen Stammbaum gebeten, der die
Verwandtschaftsverhältnisse nachwies.«
Das weiß ich doch längst!, dachte Taras. Ich habe ja die Akte
gelesen, den Bericht über dieses Treffen mit Ihnen - was glauben Sie, warum
ich hier bin? Doch die alte Historikerin fuhr fort: »Beim zweiten Mal, 1972, als man
mir erlaubte, in Paris zu arbeiten ...«
»Dann haben Sie die Nachkommen also gefunden?«, unterbrach
Taras hastig. Er fürchtete, dass die Erinnerung an la belle
France die Professorin von dem einen zentralen
Thema ablenken konnte, dessentwegen er hergekommen war.
»Ach, da gab es so viele, Taras. Haben Sie denn von dem
Kongress der Nachkommen gehört, der 1906 stattfand?«
O ja, ich habe mich zwei Stunden lang gründlich mit der Teilnehmerliste und
der Resolution befasst, Pani Maxymowitsch.
Seite 75 bis 115 von Fall
N 1247, dachte Taras. Doch er schüttelte
den Kopf
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