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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Warum hatte er sie damals eigentlich zum nächsten
Mittwochsclub eingeladen? Nur um sie zu beeindrucken? Sie war tatsächlich
beeindruckt - sie verließ den Club zusammen mit Andrij, und die beiden blieben
drei Jahre lang unzertrennlich, bis Carmen nach Havanna zurückkehrte.
     
    Nein, er weiß, wann alles begann.
    Es war jener sonnige, frostige Sonntagmorgen, als Andrij
ihn zum Mittagessen bei seinen Großeltern einlud. Der Tag, als Taras die
Türklingel drückte und zum ersten Mal jenem melancholischen Walzer lauschte,
der Tag, als Sara Samoilowna die Tür öffnete und er diese Welt der Bücher und
des duftenden Kaffees betrat. Andrijs Familienclan war versammelt - Tanten,
Neffen, der große Bruder, und Sara Samoilowna führte den Vorsitz: als
Friedensstifterin, Entertainerin, Erdmutter. Es war ein ganz normales Essen - Borschtsch,
Schweinefleisch mit Sauerkraut, Mohnkuchen. Und gerade weil es so normal war,
so ganz anders als seine eigene Familie, ärgerte es ihn umso mehr.
    Taras war sieben, als seine Mutter verschwand. Es ging das
Gerücht, sie sei geflohen, weil sie die Prügel und die krankhafte Eifersucht
ihres betrunkenen Ehemanns nicht mehr ausgehalten habe. Manche sagten, da sie
ein kräftiges, hübsches Mädchen war, sei ihr nichts Besseres eingefallen, als
sich den Fabrikarbeitern in der Stadt... »Gott vergib mir, dass ich so etwas
überhaupt denke ...!«, flüsterten die Dorffrauen dann und bekreuzigten sich
hastig. Aber niemand wusste, ob es wirklich stimmte oder ob dies nur ein Faden
des Neids war, eingewoben in törichtes Geschwätz, um dem eintönigen Dorfalltag
etwas Farbe zu verleihen.
    Sein Vater Mykola, ein Förster, hatte seine Sorgen im
trüben schwarzgebrannten Schnaps ertränkt, mit dem ihn die weichherzige woroschka, Baba Marusja, die Dorfhexe, reichlich versorgte. Um den
Jungen kümmerte sich die bucklige Baba Gapa, die Nachbarin, und dafür half
Mykola ihr, wenn er gerade nüchtern war, gelegentlich in ihrem Gemüsegarten.
Als Taras zehn Jahre alt war, wurde sein Vater tot im Wald aufgefunden: Er war
auf einem glitschigen Geröllpfad ausgerutscht, den Berg hinabgerollt und hatte
sich an den Felsbrocken den Kopf eingeschlagen. Zu seinem Glück entging Taras
dem Waisenhaus. Er besuchte die Dorfschule und wurde weiterhin von Baba Gapa
versorgt, doch aus irgendeinem Grund war er immer hungrig. Er hungerte nach
einer richtigen Familie, die beim Essen gemeinsam am Tisch saß, er hungerte danach,
an Weihnachten ein diduch zu
basteln - einen heidnischen »Strohgeist« - und zu Ostern Eier zu bemalen. Als
Andrijs Großmutter ihm noch ein Stück Mohnkuchen anbot, spürte Taras einen Kloß
im Hals, der ihn am Sprechen hinderte. Er trauerte um etwas, das er nie
besessen hatte. Man hatte ihn gemeinerweise um Dinge betrogen, die für diese
Familie ganz selbstverständlich waren. Diese Menschen erlebten Gefühle, die
ihm versagt geblieben waren, kamen in den Genuss bedingungsloser Liebe, die
doch eigentlich ihm zustand, ihm ganz allein. Ach, Sara Samoilowna, armes
Schätzchen, armes Spätzchen!
    Durch ihr munteres Gezwitscher zog sie das Unheil auf sich
herab.
    Sie hätte Taras nichts von dem Tagebuch erzählen sollen,
von den Papieren, die Andrij unter dem alten Öltucheinband gefunden hatte - das
war ein großer Fehler. Hätte sie nur nicht erwähnt, dass Andrij die Papiere mit
nach Cambridge genommen hat und dass er selbst Nachforschungen anstellen
wollte! Hätte sie nur nicht in einem fort davon geplappert, in welche Aufregung
Andrij diese Papiere versetzt hatten ...
    Zunächst fasste Taras Plan A ins Auge: »Ein einwöchiger
Aufenthalt zu Forschungszwecken in London - welch einmalige Gelegenheit, meinen
alten Studienfreund wiederzusehen.« Ein Bier in einem Pub, dann noch eins,
anschließend konnte man das Gespräch zwanglos auf Andrijs Nachforschungen
lenken und noch auf andere, wichtigere Themen.
    Doch tief in seinem Herzen wusste Taras, dass Plan A nicht
funktionieren würde. Andrijs Familie hatte schon immer unter Beobachtung
gestanden, Andrij war an Verschwiegenheit gewöhnt, sie lag ihm im Blut. Er war
stets auf der Hut, was er sagte. Seine Freunde (einschließlich Taras, von
seinen Mentoren dazu gedrängt) sagten immer, Andrij lasse zwar nie jemanden in
den unsichtbaren Kreis hinein, den er um sich gezogen habe, aber es sei toll,
mit ihm zusammen zu sein, wenn er mal aus diesem Kreis heraustrete. Die Chance,
dass Andrij seinem Studienfreund von den Dokumenten erzählen würde, war

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