Shevchenko, A.K.
die Tochter eines berühmten Mathematikers,
der dann irgendwo in einem von Stalins Lagern zugrunde gegangen ist.« Wieder
senkte sie die Stimme zu einem Flüstern. »Sie war intelligent, recht offen für
ihr Alter, aber schließlich gehörte sie zu den jungen Leuten jener ersten
Sowjetgeneration, denen man den Eindruck vermittelt hat - für sehr kurze Zeit
-, sie dürften frei ihre Meinung äußern. Nun, Oxana versuchte, den
Erbschaftsanspruch geltend zu machen, um die Namen ihres Großvaters und ihres
Vaters zu rehabilitieren. Sie war eine Ururur... - wie auch immer, ich hab den
Überblick verloren -, aber die Legende hatte in ihrer Familie seit Generationen
überdauert. Wir haben uns oft über Oxanas kosakische Wurzeln unterhalten - sie
lud mich sogar mal zu sich nach Hause ein, um mir die Artefakte zu zeigen. Die
waren historisch unglaublich wertvoll: ein Porträt Pablo Polubotoks und ein
kleiner silberner Kandelaber, der, wie sie sagte, dem Kosaken-Hetman gehört
hatte, sowie ein paar Briefe vom Sohn des Hetmans, Jakiw. Erstaunlich, dass es
der Familie gelungen war, diese Dinge aufzubewahren - trotz all der
Durchsuchungen und Verhaftungen, denen sie ausgesetzt war. Vielleicht besaßen
sie sogar das Original des Testaments - ich weiß es nicht, sie haben es mir
nie gezeigt. Ich erinnere mich, dass ich Oxanas Mutter dazu überreden wollte,
alle dem Museum zu schenken, aber sie beharrte eisern darauf, dass diese Dinge
eines Tages als Beweise benötigt würden.« Parti Maximowitsch
sagte Taras nichts Neues. Ihre Erinnerungen bestätigten nur alles, was er in
dem Bericht von 1962 gelesen hatte.
Er hüstelte höflich. »Wissen Sie, wo ich Oxana finden
kann?«
»Ach, mein lieber Junge, ich hab in meinem Leben so viele
Menschen kennengelernt und wieder aus den Augen verloren, dass es unmöglich
war, die Übersicht zu behalten. Sie hat keinen Abschluss gemacht, daran kann
ich mich noch gut erinnern. Der Dekan sagte mir, dass sie ihren Verlobten
geheiratet hat und mit ihm nach Moskau gezogen ist. Ob sie ihr Studium dann
dort beendet hat, entzieht sich meiner Kenntnis, weil ich keine Ahnung habe,
wie ihr Ehename lautet. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, die Kupferstiche!
Ich besitze eine phantastische Sammlung von Kosakenporträts, die ich Ihnen
noch zeigen wollte ...« Doch Taras schob schon seinen Stuhl zurück. »Haben Sie
ganz herzlichen Dank, Parti Maxymowitsch!
Ich werde mir diese Porträts nächstes Mal ansehen, wenn Sie mir gestatten, Sie
noch einmal zu besuchen.«
Die alte Dame seufzte. »Warum sind nur plötzlich alle so
vom Kosakengold besessen? Die Erklärung im Parlament, Zeitungsartikel,
Fernsehsendungen - und Sie sind heute sogar schon der Zweite, der mich danach
fragt. Am Morgen kam eine reizende junge Engländerin vorbei ...«
»Eine reizende junge Engländerin?«, wiederholte Taras. Er
setzte sich wieder.
»Ach«, fuhr die alte Dame fort, während sie, ohne Taras
anzusehen, ihre Papiere faltete und wieder in den Ordner steckte, »eine
Doktorandin aus Cambridge, die über die Geschichte der Kosaken forscht. Ein
liebes Mädchen, recht schüchtern, wirkte ein bisschen erschöpft. Arbeitet
offenbar hart. Ich fand es recht aufschlussreich, dass man sich in Cambridge
für dieses Thema interessiert. Wohlgemerkt, wir konnten nicht viel miteinander
reden. Ich hab in der Schule Französisch gelernt, also haben wir uns damit
verständigt - und mit meinen paar englischen Brocken und ihren zehn ukrainischen
Brocken, wobei sie allerdings eine erstaunlich gute Aussprache hatte. Ich hab
ihr meinen Artikel zu lesen gegeben - den will ich dieses Jahr veröffentlichen,
zum zehnten Jahrestag der Unabhängigkeit. Ich weiß gar nicht, welcher Zeitung
ich ihn geben soll, die sind heutzutage alle so oberflächlich, so vulgär!
Jedenfalls geht es in dem Artikel um das ausländische kosakische Erbe; er
könnte ihr also bei ihren Nachforschungen nützlich sein. Ich habe den Artikel
zwar auf Ukrainisch verfasst, aber vielleicht findet sie ja jemanden, der ihn
ihr übersetzt. Wir haben uns für morgen noch einmal verabredet, da ist meine
Tochter da, die Englischlehrerin ist und übersetzen würde.«
Taras konnte fast spüren, wie sein Gehirn auf Hochtouren
kam, wie es ratterte und klickte, um die soeben erhaltenen Informationen zu
verarbeiten. Diese zweite Besucherin war ihm alles andere als angenehm. Sollte
er seinen Stift dalassen oder die heutigen Gesprächsnotizen auf dem Boden
neben seinem Stuhl »vergessen«, als
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