Shevchenko, A.K.
Vorwand, morgen noch einmal vorbeizukommen
und die englische Studentin zu treffen? Aber sein Stift war nur ein billiger Plastikkugelschreiber,
und seine »Notizen« bestanden aus fünf Zeilen, nur so aus Langeweile
hingekritzelt. Verdammt ... »Ach, übrigens«, die Stimme der Professorin klang
plötzlich aufgeregt und liebevoll. »Sie haben Ihren Abschluss an der Universität
Lemberg erwähnt. Hatten Sie Gelegenheit, dort während Ihres Studiums einen
berühmten Historiker kennenzulernen?« Sie nannte den Namen von Andrijs
Großvater.
»Nein, nicht dass ich wüsste.« Taras starrte direkt in
ihre dicken Brillengläser. Er wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Aber ich
habe viel von ihm gehört.«
Ihr Lächeln glich eher dem eines Kindes als dem einer
Greisin. »Er war ein ganz bemerkenswerter Mann. Besaß ein enzyklopädisches
Wissen. Ich habe ihn früher sehr gut gekannt. Wir haben vor dem Krieg zusammen
studiert und waren mehr als nur Freunde.« Taras spürte einen unangenehmen Druck
in der Brust. Natürlich, sie war nicht nur Pani Maxymowitsch,
sie war »Professor Wera Maxymowitsch«! Er dachte an Sara Samoilownas Worte:
»Wera war ein Mädchen, das mein Mann vor dem Krieg heiraten wollte. Sie haben
zusammen studiert, und dann wurde mein Mann zur Arbeit ins Archiv geschickt,
während sie in Moskau blieb. Erstaunlicherweise hat sich zwischen uns nach dem
Krieg eine enge Freundschaft entwickelt.«
Und wenn nun Wera Maxymowitsch auf die Idee kam, Sara
Samoilowna anzurufen und seinen Besuch zu erwähnen ... »Zufälle zu ignorieren
ist der erste Schritt auf dem Weg zum Misserfolg« - so lautete das
Lieblingsmotto von Oberst Surikow an der Akademie, das auch zu Taras'
Lieblingsmotto geworden war. Entschlossen erhob er sich und sagte: »Kann ich
ein Glas Wasser haben, bevor ich gehe? Keine Sorge, ich finde allein in die Küche.«
14
Kiew, Lawra-Kloster, April 2001
Wie soll er diese Leute voneinander unterscheiden? Einige
sind wohl Pilger, andere Touristen. Alle Frauen tragen Kopftücher, und die
meisten Frauen bekreuzigen sich rasch. Und alle blicken nach unten, als lägen die
Wahrheit, der Geist, die Kraft, nach der sie suchen, unter den massiven
Bleitoren verborgen. Warum blicken sie nicht nach oben? Dort befindet sich das
Göttliche - die goldenen Zwiebeltürme des Klosters im Sonnenglanz, funkelnd in
der stillen Luft. Er gehört eigentlich gar nicht dazu - der einzige junge Mann
unter lauter gläubigen Frauen mittleren Alters, die das Kloster besuchen -,
aber es stört ihn nicht. Er ist in einer Mission unterwegs.
Sicherlich keine Mission, die Karpows Zustimmung fände.
»Erklären Sie mir doch bitte einmal, welche Logik darin liegen soll, mitten
im zweiten Stadium einer wichtigen Operation so etwas zu unternehmen, Leutnant
Petrenko. Also?«, hätte er gesagt, den Kopf gehoben und mit seinem Kinn auf
Taras gedeutet. Zum Glück muss Taras, der nun sechs Stunden auf den Beginn der
nächsten operativen Phase warten muss, nicht Rede und Antwort stehen. Diese
Mission schuldet er sich selbst und niemandem sonst.
»Deine eigene Furcht ist der ultimative Verrat.«
Ausnahmsweise stimmt Taras dieser Weisheit Oberst Surikows einmal zu. Ihn
schauert immer noch, wenn er an seinen letzten Besuch in diesem Kloster vor
zwölf Jahren denkt und an jenen »ultimativen
Verrat«.
Es muss damals die Wirkung der Vorlesung über das
Mysterium der Höhlen gewesen sein, kurz vor dem Forschungsaufenthalt - eine der
wenigen Universitätsvorlesungen, die ihn wirklich gefesselt haben. In der
Erinnerung hört er immer noch das Klicken der Dias: Entstehungsdaten, Zahlen,
Fotografien zahlreicher Kirchen ...
Das erste Dia zeigte eine Gruppe weißgetünchter Gebäude
mit goldenen Zwiebeltürmen, über den grünen Hügel verteilt. Was für ein
Anblick!, hatte Taras damals gedacht. Er erinnert sich noch gut an den
Eingangstext: Lawra Petschersk, das älteste russisch-orthodoxe
Kloster, wurde ioyi in den unterirdischen Höhlen gegründet. Daher der Name,
abgeleitet vom alten russischen petschery für
»Höhlen«.
Klick, nächstes Dia - ein Foto der unterirdischen Kapelle
-, gefolgt von einem Kommentar Professor Symonenkos, des Organisators der
Forschungsreise:
»Satworniki, die Eremiten, wurden oft lebendig
in den Höhlen eingemauert, um rascher in den Zustand der Heiligkeit zu gelangen.
Man ließ ein winziges Fenster frei, durch das Luft, Wasser und Brot gelangten.
Die Höhlen fungierten über zwei Jahrhunderte hinweg auch als
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