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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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ehrlicher,
lustiger Kumpel.
    Als Taras vorschlug, einen politischen Diskussionsclub zu
gründen, waren alle von der Idee begeistert. Der Fakultätsdekan teilte ihnen
für den Mittwochabend einen Seminarraum zu. Damit die
Studenten die Politik der Kommunistischen Partei genau studieren können, sie
akzeptieren und zu neuen Erkenntnissen gelangen und die überhebliche westliche
Propaganda verurteilen, hieß es auf dem Zettel, der
gegenüber dem Büro des Dekans hing. Der Mittwochsclub wurde ein Forum für
hitzige Diskussionen, ja sogar gelegentliche Zweifel am Kurs der
Kommunistischen Partei. Die kühnsten, umstrittensten Ideen kamen stets von
Taras Petrenko. Niemand, nicht einmal sein Mitbewohner, ahnte, dass jedes einzelne
Wort dieser provokativen Reden aus Texten stammte, die ihm seine KGB-Tutoren
zur Verfügung stellten. Jeden Donnerstagmorgen, wenn Taras die ruhigen,
belaubten Wege des Strijski-Parks entlangjoggte, übergab er einem anderen
Jogger, dem er zufällig begegnete, einen detaillierten handschriftlichen
Bericht des letzten Clubtreffens.
    Ein weiterer aktiver Sprecher bei den Clubtreffen war
Andrij Sawtschuk oder Andrijko, wie ihn alle nannten. Er war klug und beliebt,
und seine Familiengeschichte verlieh ihm zusätzlich eine heroische Aura. Sein
Großvater, ein berühmter Historiker, im Westen sehr bekannt, wurde in seinem
eigenen Land radikaler nationalistischer Ideen bezichtigt. Doch westliche
Radiosender, die nicht durch ausgeklügelte sowjetische Störsender überlagert
wurden, starteten eine massive Kampagne zu seinem Schutz. Deshalb wurde er
nicht verhaftet, durfte jedoch weder publizieren noch seiner Lehrtätigkeit
nachgehen und vegetierte im Archiv, wo seine Arbeit von zwei Aufpassern
genauestens kontrolliert wurde, still vor sich hin. Es lag nahe, dass sich
Andrijko im Visier des KGB befand, und so war es ganz »natürlich«, dass er
Taras bester Freund wurde. Da Andrij sein Studium mit exzellenten Noten
absolvierte und über fünf Jahre hinweg bei der jährlichen Tagung für
Forschungsstudenten die höchsten Auszeichnungen kassierte, rechnete eigentlich
jeder damit, dass er einen Lehrauftrag erhalten würde. Und so ging bei der
Abschlussfeier ein überraschtes Raunen durchs Publikum, als der Dekan raspredelenije - die Arbeitsplatzzuweisung nach Hochschulabschluss -
bekannt gab. Andrijko wurde als Geschichtslehrer in eine Kleinstadt in der Nähe
von Lemberg versetzt. Die nächste große Überraschung war die, dass Taras
Petrenko ein Doktorandenplatz am berühmten Moskauer Institut für Geschichte
und Archivwesen angeboten wurde. Taras war ein super Kumpel, ganz klar, aber
doch eigentlich kein Wissenschaftler. Vielleicht, dachten seine Freunde, hat
sich die Tatsache ausgewirkt, dass er der Gründer des sehr erfolgreichen
Diskussionsclubs war. Nach herzlichen Verabschiedungen, Umarmungen und dem Versprechen,
sich zu schreiben und jedes Jahr zu treffen, machte Andrij sich auf den Weg in
die Provinz, während Taras nach Moskau reiste. Er bedaure aufrichtig, dass es
ihm nicht möglich sei, seinen Freunden seine Adresse mitzuteilen, aber er
wisse ja noch nicht, in welchem Wohnheim er unterkommen werde. Er konnte ihnen
ja nicht sagen, dass sich das Wohnheim nicht im Moskauer Zentrum, in der Nähe
des Archiv-Instituts, befinden würde, sondern am Stadtrand von Moskau, am
Mitschurinski Prospekt, bei der KGB-Akademie.
     
    Oder vielleicht begann alles damit, dass er Carmen kennenlernte?
    Als sie beide Carmen
kennenlernten. Alles an ihr war schrill, exotisch, üppig: ihr tiefes, heiseres
Lachen, ihr scharlachroter Schmollmund, ihr schwingender Gang, ihr kubanischer
Akzent. Sie wohnte auf dem gleichen Stockwerk wie Taras, und sie lud ihn ein, mit
ihr auszugehen - in der Küche, neben dem kochenden Wasserkessel: »Schauen wir
uns doch mal einen Film an, Taras, wie wär's? Vamos heute
Abend, nein?«
    Wer hätte ihr widerstehen können - ihrem
spanisch-ukrainischen Mix, der Art, wie sie sich den Honig von den Fingern
schleckte, wie sie dastand, in ihrem körperbetonten, schicken Kleid und den gemütlichen
roten Filzpantoffeln? Welcher Mann, welcher heißblütige junge Bursche, hätte
nach dem Kino nicht noch eine Tasse Tee mit ihr getrunken, vor allem als sie
ihre rabenschwarze Mähne zurückwarf und erwähnte, dass ihre Zimmernachbarin
heute bei ihren Eltern sei? Er gestand ihr, dass sie seine erste Frau sei,
sagte ihr aber nicht, dass sie sein Ein und Alles war - dazu bekam er gar nicht
erst Gelegenheit.

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