Shevchenko, A.K.
und sagte: »Nein, nie davon gehört, Frau Professor.« Ihre Energie
erstaunte ihn aufs Neue. Sie sprang auf, beugte sich vor und entnahm dem
zweiten Ordner in der dritten Reihe ihrer vierundzwanzig auf dem Boden
verteilten Aktenordner (Taras hatte sie schon zweimal gezählt) ein Blatt Papier.
»Hier!« Der Jubel ließ sie gleich zehn Jahre jünger wirken. »Hier steht alles
drauf, Taras!«
Er betrachtete die Kopie der in Kiew erscheinenden Abendnachrichten vom 15. Januar 1906 und las
erneut den ihm bereits bekannten Text:
Ein erstaunliches Ereignis in unserer Stadt! Heute fand im
Saal des Mädchen-Lyzeums N2 der
Kongress der Nachkommen des kosakischen Hetmans Pablo Polubotok statt; vierhundertachtzig
Nachkommen aus allen Ecken des Russischen Reichs - aus Charkow, Poltawa,
Saratow, St. Petersburg, Chabarowsk - nahmen an dem Kongress teil. Welch bunte
Mischung aus Gesellschaftsschichten und Dialekten! Ein Advokat aus Odessa,
Nikolai Polubotok, wurde zum Vorsitzenden des Kongresses gewählt. Seine Rede
(siehe unten) wurde mit enthusiastischem Applaus bedacht:
»Meine lieben, lieben Freunde! Ich möchte euch Brüder nennen,
da wir alle Nachfahren der alten kosakischen Bruderschaft sind.
Im vergangenen Herbst schenkte uns das Manifest des Zaren
Hoffnung. Die ukrainische Fraktion in der ersten Duma hat bereits das Thema der
territorialen und politischen Autonomie zur Sprache gebracht. Vor zwei Jahren
begrüßten wir alle das neue Gesetz zur Pressefreiheit. Bald schon werden wir
das Recht haben, unsere eigene Nation zu regieren. Aber sind wir schon bereit
für die Unabhängigkeit? Wir sprechen die Sprache, die auf der Straße verboten
ist; wir haben nur zwei nationale Zeitungen, keine ukrainischen Schulen. Wir
benötigen Geld, um unserer nationalen Kultur neues Leben einzuhauchen. Unser
Kongress kann und wird etwas dafür tun. Das Gold, das unsere Vorfahren in jenem
tiefen Londoner Gewölbe deponierten, könnte uns beim Aufbau einer neuen
Ukraine behilflich sein. Ich denke, ihr befürwortet die Verabschiedung der
Resolution, dass wir das Geld zugunsten einer unabhängigen ukrainischen Nation
anfordern sollten.«
Die Kongress-Delegierten wählten Nikolai Polubotok zum
Gesandten, der mit diesem Anliegen in London vorstellig werden sollte.
»Und wissen Sie was, Taras?«, sagte die Professorin in
ernstem, bedächtigem Ton. »Er ist in London verschwunden, dieser Rechtsanwalt.
Er ist mit dem Geld durchgebrannt, das die Delegierten für die Nachforschungen
gesammelt hatten.« Sie nahm ihre Brille ab und polierte energisch die Gläser,
als könnte dies ihre Sehkraft verbessern.
Taras war es ganz recht, dass sie im Moment nichts sah. Er
konnte sich nämlich ein Lächeln nicht verkneifen. Er stellte sich ihr Gesicht
vor, wenn er ihr die Wahrheit gesagt hätte: »Nein, Frau Professor, er ist nicht
mit dem Geld durchgebrannt. Er ist nie in Großbritannien angelangt, Ihr
Nikolai. Einer der Delegierten, ein Schulinspektor aus Kiew, wurde nämlich vor
folgende Wahl gestellt: Entweder konnte er dem Polizeispitzel bei einer
>zufälligen< Begegnung in der neuen Stadtbücherei einen Brief zustecken
über das, was der Gesandte der Nachkommen vorhatte, oder man würde umgehend
einen Brief ans Bildungsministerium schicken, über die >antimonarchistischen
Ansichten, die er auf dem Kongress der kosakischen Nachkommen geäußert
hat<. Übrigens hieß die Bücherei, in der die Übergabe stattfand,
>Seelenapotheke<. Die Kiewer Abteilung der Geheimpolizei hatte einen
ausgeprägten Sinn für Ironie. Auf den Bericht des Schulinspektors hin (Seite 89, Fall 1247) wurde
Nikolai Polubotok an der deutschen Grenze aus dem Zug gestoßen; seine Leiche
wurde nie gefunden. Es wäre ja so unpassend und unbequem gewesen, wenn das
Thema der ukrainischen Unabhängigkeit in der ersten Duma diskutiert und dem Zaren
erneut vorgelegt worden wäre - nicht wahr?« Die Professorin setzte ihre Brille
wieder auf und wandte sich erneut ihrer Suche nach den Nachkommen zu.
»Überraschenderweise«, fuhr sie fort, »wurde danach nie mehr Anspruch auf das
Erbe erhoben. Jedenfalls nicht, soweit ich informiert bin. Wenn Sie sich
erinnern - es waren dunkle Zeiten, die Beweise entbehrten jeglicher Substanz,
die nötigen Dokumente waren nicht verfügbar. Ich kann mich allerdings sehr gut
an ein Mädchen erinnern, dessen Anspruch auf das Erbe ungewöhnlich große
Chancen hatte. Sie war in den sechziger Jahren meine Studentin ... Oxana,
genau, ihr Name war Oxana. Sie war
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