Shevchenko, A.K.
Friedhof. Die
Leichen der in den Höhlen bestatteten Mönche wurden oft mumifiziert, durch den
Willen Gottes oder eine seltsame Laune der Natur. Die erste Erklärung war für
das Kloster offenbar akzeptabler, und so wurde Lawra ein Pilgerort mit vielen
Kirchen und unterirdischen Kapellen für das stille Gebet.«
Das dritte Dia war etwas beunruhigender - enge, düstere
Gänge; Kerzenlicht, reflektiert vom Glas der Särge in den Gewölben. »Dies sind
die berühmten Höhlen, die geheimnisvollen unterirdischen Labyrinthe, die immer
noch nicht vollständig erforscht sind ...« Hier senkte Symonenko die Stimme und
legte eine Pause ein, um eine maximale Wirkung zu erzielen. »Nur 2 Kilometer
der insgesamt 31 Kilometer langen Gänge sind der Öffentlichkeit
zugänglich. Mehrere Personen, die die Höhlen näher erforschen wollten,
verschwanden auf geheimnisvolle Weise. Die Glücklichen, die man lebend
entdeckte, hatten die Augen vor Schreck weit aufgerissen und zeigten Anzeichen
tiefer Verstörung ... Darum, ihr Lieben«, schloss Symonenko fröhlich, »bleibt
während des Besuchs der Höhle bitte bei der Gruppe, und falls ihr euch absentiert
- müsst ihr mit den Folgen leben.«
Eine Woche später schob sich Taras gemeinsam mit den
anderen Studenten zentimeterweise durch unterirdische Gänge, hielt eine
Wachskerze umklammert, spähte in die taschentuchgroßen Fenster der
mumifizierten Eremiten, lauschte dem murmelnden Echo der Pilgergebete in den
unterirdischen Kapellen. Es begann mit einem Geruch. Dem schalen, schimmligen
Geruch unbelüfteter alter Gebäude. Hier unten, wo er vermengt war mit
Weihrauchduft und dem ranzigen fettigen Gestank billiger Wachskerzen, hatte man
das Gefühl, zu ersticken. Der Geruch drang tief in die Lungen und verursachte
Panik. Taras ging noch langsamer, trotz des Protests seiner Kommilitonen, die
sich hinter ihm durch die Gänge schoben. Die Flamme der Kerze in seiner Hand
flackerte heftiger, und er spürte, wie ihm der Schweiß übers Gesicht rann. Er
presste sich mit dem Rücken an die feuchte Wand und versuchte, sich am Strom
der Pilger vorbei zurück zum Ausgang zu schieben. Die mumifizierten Leichen
schienen näher zu kommen, die Decken niedriger zu werden, und Taras' Welt verengte
sich zu der schwachen Hoffnung, am Ende des x-ten Gangs irgendwann ans
Tageslicht zu gelangen.
Als er sich schließlich ins Freie gekämpft hatte und in
die weißazurblaue Kirche stürmte, die über dem Höhlenausgang errichtet worden
war, brach er auf den Bleiplatten zusammen, keuchte, blinzelte in die
Sonnenstrahlen und nahm die Menge um sich herum gar nicht mehr wahr. Er hat
diesen Tag und das Versprechen, das er sich damals gab, nie vergessen: ein
zweites Mal durch die Gänge zu laufen und seine Furcht zu besiegen.
Taras erinnert sich, dass es hinter dem Refektorium eine
Aussichtsplattform gibt. Eine Minute später genießt er das Panorama: die
Inseln mitten im Fluss, mit ihren leeren Sandstränden, der hektische Verkehr
auf der Brücke über den Dnjepr; die Baukräne, die sich über die neuen
Wolkenkratzer am linken Ufer dehnen. Eine Nanosekunde lang bereut er seinen
Entschluss - es wäre so viel einfacher gewesen, den Rest des Tages im Park am
Fluss zu verbringen. Er hätte diese paar Stunden Pause wahrlich verdient. Sein
Blick meidet das Eine, weswegen er gekommen ist - das grüne Dach des unterhalb
liegenden Gebäudes: das Gebetshaus der Pilger am Eingang zu den Höhlen. Er
versucht den Gedanken an all das Schreckliche, das passieren könnte, zu
verdrängen. Was, wenn er nicht rasch genug wieder aus den Höhlen herauskam?
Was, wenn er dort unten einen Herzstillstand erlitt und Hunderte von Pilgern
über ihn hinwegtrampelten, ihn im Dunkeln zermalmten, bevor man ihn entdeckte?
Reiß dich zusammen, Taras, Schluss mit den Träumereien! Er
beschleunigt seinen Schritt. Um sich abzulenken, beschließt er, die Holzstufen
des Durchgangs zu zählen, der zum Eingang der Höhlen hinabführt. »14, 15«, flüstert
er vor sich hin und hält kurz inne, um Luft zu holen. Als er bei 172 angelangt
ist, sind seine Handflächen verräterisch feucht. Der wohlbekannte Geruch des
Moder-Weihrauch-Gemischs weht ihm entgegen, und plötzlich wird ihm so
schwindlig, dass er zur Pilgerquelle am Eingang hinüberstolpert, um sein
Gesicht mit eiskaltem Wasser zu benetzen. Ruhig, Tarasik, denkt er. Es muss
eine Erklärung geben, warum dieser Geruch solch blinde Panik auslöst. Er nennt
sich Tarasik, wie seine Mutter ihn nannte,
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