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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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sich Taras nach rechts und wandert die
Straße entlang bis zu dem Platz, an dem ein Obelisk und der moderne Pisaturm
eines architektonisch missglückten Hotels stehen, in Richtung Metrostation.
Aufmerksam scannt er die Busfahrgäste und Passanten, taucht in
Straßenunterführungen, umrundet den Platz. Alles vergeblich; er hat sie
verloren. In seiner Verzweiflung ist er ziemlich weit gelaufen, hinunter zum
Stadtteil Podol, zu den Freiflächen der Kontraktowa Ploscha. Um Atem zu schöpfen,
bleibt er vor einem niedrigen zweistöckigen Gebäude stehen, dessen
Erdgeschossfenster so tief abgesackt sind, dass man die Simse für Stufen halten
könnte.
    Die Fassade ist übersät mit Gedenkplaketten - gefeierter
Poet, legendärer kosakischer Hetman, bedeutender Gelehrter, berühmter
Komponist. Offenbar haben all diese berühmten Leute, deren Namen ihm
nichts sagen, hier studiert, an der Kiew-Mohyla-Akademie,
der ältesten Bildungseinrichtung der Ukraine. Hier hat
sie also studiert! Nicht das Mädchen, dem er jetzt nachjagt, sondern das
Mädchen, dem 1748 nachgejagt wurde.
    Seine Akte über Sofia liegt tief in seiner Aktentasche
vergraben, aber er muss die kopierten Seiten gar nicht zur Hand nehmen. Er hat
sie genau im Kopf.
     
    Bezüglich der dewiza Sofia
Polubotok beehren wir uns, Folgendes mitzuteilen. Neigt dazu, sich in Gefahr
zu begeben, und besitzt einen gewissen Bildungsstand. Wurde im Alter von
sechzehn Jahren Studentin an der Kiew-Mohyla-Akademie in Kiew, da sie sich als
Mann verkleidete und als ihr Bruder Panas figurierte. Weilt zur Stunde in
Frankreich, bei der Familie des Grafen Orly, anders bekannt auch als Kosak Grygorij
Orlyk, der Feind des Reichs.
     
    15
     
    Champagne, Frankreich, Juni 1748
    Die Stille wird allmählich peinlich. Sofia muss das Eis
rasch brechen, solange es sich noch um eine dünne Schicht ersten Bodenfrosts
handelt. Sie weiß, ein unvorsichtiges
Wort, ein falscher Zug könnte alles
verderben.
    Sie hat sich den Grafen Orly ein bisschen wie ihren Vater
vorgestellt - groß, breitschultrig, mit schwarzem Schnurrbart -, doch nun
haben die Diener einen höflichen, ernst blickenden Franzosen an die Tür
gerufen. Er trägt eine grüne Damastweste und purpurrote Samtkniehosen; seine
dick bepuderte Perücke schließt direkt an den Haaransatz an, und um die Fuge zu
kaschieren, ist sein eigenes graues Haar nach hinten gebürstet.
    Mit einem Nicken bittet er Sofia herein, und sie folgt ihm
in die riesige Küche mit kahlen Wänden, die voller Kupferpfannen und
Weinpressen steht. Wassil bleibt draußen, um Sofias skrynja abzuladen.
Der Graf betrachtet sie schweigend. »Et alors?«, sagt er
schließlich. Französisch? Sie hat nicht damit gerechnet, dass er französisch
mit ihr sprechen würde. Außerdem hat sie ihr Wörterbuch vergessen.
    Sie versucht, ein Gespräch auf Latein zu beginnen, und
bereut zum ersten Mal, dass sie die Sprache an der Akademie nicht richtig
erlernt hat. Sie möchte dem Grafen erklären, dass sie ihm etwas mitgebracht
hat, bringt aber alle Wörter durcheinander. Der Graf betrachtet sie ohne die
geringste Reaktion. Was soll sie nur tun? Dieser Mann wird ihr nicht helfen, so
viel steht fest. Aber sie kann die Reise nach London doch nicht allein in
Angriff nehmen ... Sie läuft aus dem Zimmer, schluckt ihre Tränen, ihren Groll
hinunter.
    Wassil wartet draußen auf weitere Instruktionen. Er hat
die skrynja aus der Kutsche geholt, die Pferde
aber noch nicht ausgeschirrt. Sie sind hier eindeutig nicht willkommen. Sofia
holt den Brief ihres Vaters aus der skrynja und, nach
einigem Zögern, ein leinenes ruschnyk. Das
festliche Handtuch, von ihrer Mutter so liebevoll mit roten und schwarzen
Blumen bestickt, ist jetzt grau von Straßenstaub und sogar noch zerknitterter
als ihr blauer Mantel.
    Nun ja, denkt Sofia rachsüchtig, das ist genau das
richtige Geschenk für diesen Mann, der mit seinem verzweifelten Brief an den
Vater diese qualvolle Reise überhaupt erst veranlasst hat und jetzt so tut, als
wüsste er nicht, wer ich bin. Doch als der Graf den Brief des Vaters sieht,
wendet er sich Sofia zu, lächelt übers ganze Gesicht und sagt in leicht
akzentbehaftetem Ukrainisch: »Sdorow, dytynko!« Er nennt
sie in ihrer Muttersprache »Kindchen«, und eine Woge der Erleichterung schwemmt
die ganze Mühsal der Reise hinweg. Der Graf führt sie in die Halle. Wäre sie
nicht so müde, würde Sofia die Zimmerflucht bewundern, die sie durchschreiten,
den schneckenhaft gewundenen Treppenaufgang und

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