Shevchenko, A.K.
ein.
Zuerst kapiert er nicht, was überhaupt ausgestellt wird.
Der Raum ist kahl, futuristisch gestaltet, an den Wänden hängen zwölf symmetrische
Glasscheiben. Als Taras sich vorbeugt und eine dieser Scheiben betrachtet,
erblickt er eine goldene Karawane, die in der Mittagssonne leuchtet. Vier
Kamele, die sich einer Pyramide und einem Palmbaum nähern. Er entfernt sich von
der Scheibe, und das Bild verschwindet; hinter dem Glas ist nur noch eine dünne
Silberlinie mit einem goldenen Punkt zu sehen. Eine Art Hologramm? Er beugt
sich wieder vor. Die Kamele sind immer noch da, bewegen sich immer noch auf die
Oase zu.
Taras überfliegt eine Tafel an der Wand und wundert sich
über den nüchternen Kommentar. Kühl informiert der Text darüber, dass sich
dieses aus Gold angefertigte Arrangement im Ör einer ganz normalen Nadel
befinde und nur durchs Mikroskop zu erkennen sei. Keine Ausrufezeichen, kein
Hinweis auf das erstaunliche Talent des Künstlers, keinerlei Anspielung auf
ein »Wunder«. Fasziniert geht Taras im Raum umher. Er sieht das kleinste Buch
der Welt, dessen Seiten mit einem Spinnwebfaden geheftet sind, dann einen Floh
in goldenen Stiefeln ... Erst jetzt bemerkt er, dass sich noch eine andere
Besucherin im Raum befindet, ein Mädchen. Sie merkt offenbar nicht, dass sie
die Ausstellung am falschen Ende angefangen hat, und bewegt sich auf Taras zu,
wobei sie vor den Schaukästen jeweils nur wenige Sekunden verweilt. Aus
beruflicher Gewohnheit erfasst Taras ihre Erscheinung mit einem Blick: eine
eckige Tasche, ausgebeult von Aktenordnern, keine Kamera. Sie trägt schwarze
Hosen, keine Jeans, und einen Kamelhaarmantel. Vermutlich eine ausländische
Studentin oder Forscherin, jedenfalls sicher keine Touristin. Ihr Körper
besteht nur aus Ecken und Kanten - Kinn, Nase, Ellbogen. Sie bewegt sich
langsam, mit der erstaunlichen Anmut einer feingliedrigen Giraffe. Sie trägt
ihr braunes Haar in einem Pferdeschwanz gebunden, und als sie sich über eins
der Mikroskope beugt, entdeckt Taras ein Muttermal an ihrer linken Halsseite,
direkt unterhalb des Ohrs. Ohne Taras zu bemerken, der hinter ihr steht, geht
sie zum nächsten Mikroskop und tritt Taras mit dem Stiefelabsatz voll auf den
Zeh. Sie verliert das Gleichgewicht und fällt beinah nach hinten, doch Taras
ist schon zur Stelle, stützt sie mit der Schulter, hält sie am Ellbogen fest, hebt
ihre Riesentasche vom Boden auf. Sie entschuldigt und bedankt sich leise auf
Englisch und Ukrainisch, Letzteres mit Akzent, hebt den Kopf, blickt ihn mit
müden, erschöpften Augen an, und in diesem Moment erwischt es ihn. Sie hat
etwas so Vertrautes, so Verletzliches und Zartes. So also sieht das Mädchen
aus, das dir das Schicksal bestimmt hat, Taras, denkt er. Sie ist größer, als
er sie sich vorgestellt hat, magerer.
Diese ungekannte Woge von Empfindungen, die hier, mitten
in diesem kahlen Ausstellungssaal, über ihn hinwegfegt, trifft ihn völlig
unvorbereitet. Er wurde hinterrücks überfallen von diesem Mädchen, das ihn
entschuldigend anblickt, sich auf die Unterlippe beißt, in der einen Hand ein
zerknülltes Taschentuch hält, mit der anderen den Verschluss ihrer Tasche
umklammert. Wie kann jemand so entschlossen wirken und gleichzeitig so
schutzlos und verletzlich ?
Zum ersten Mal in seinem Leben will er sich nicht
verteidigen. Er will sie beschützen.
Sie stehen jetzt an einem Mikroskop, das eine Rose im
Innern eines schimmernden menschlichen Haars zeigt, und Taras sagt: »Ist das
nicht erstaunlich?«, einfach nur, um irgendetwas zu sagen, um Zeit zu gewinnen,
sie hier festzuhalten, bei sich. Sie antwortet nicht. »Ich wünschte, ich könnte
Ihnen eine echte Rose schenken«, versucht er es auf Englisch, aber entweder hat
ihn das Mädchen nicht verstanden oder nicht gehört. Sie sieht an ihm vorbei und
schwebt langsam, wie eine Schlafwandlerin, dem Ausgang zu.
Er bleibt ein bis zwei Minuten stehen, lauscht seinem
Herzschlag, versucht zu benennen, was eben mit ihm vorgegangen ist. Als er
hinauseilt in die kalte Luft, an der Großmutter mit den Goldzähnen vorbei, ist
das Mädchen verschwunden.
Taras analysiert die Situation. Das Museum liegt am
Haupteingang. Sie könnte weitergegangen sein, in den Klosterbezirk, was jedoch
unwahrscheinlich ist, da sich ihr Kamelhaarmantel von den weißen Wänden abheben
würde. Wenn sie das Klostergelände verlassen hat, ist sie höchstwahrscheinlich
rechts abgebogen, wie der Strom der übrigen Touristen.
Entschlossen wendet
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