Shevchenko, A.K.
kriegen. Mein Gott, daran hat sie gar nicht gedacht. Die
werden ihr Gepäck durchsuchen, oder etwa nicht?
»Irgendetwas Wertvolles?«, fährt das Mädchen fort. »Gold,
Zahlungsmittel, Gemälde?«
Nein, denkt Kate. Nur die Zukunft eures Landes. Barbie
verhält sich recht liebenswürdig - offenbar ist sie durch die Macht, die ihr
der Staat verliehen hat, noch nicht korrumpiert. »Das einzige Gold ist dieser
Ring hier, den ich am Finger trage«, beginnt Kate. »Und ich habe 200 Dollar in
meiner Brieftasche. Muss ich das in meiner Zolldeklaration erwähnen?« Aber das
Mädchen hat sie bereits durchgewinkt und klimpert mit den Wimpern schon dem
nächsten Passagier zu, einem Amerikaner von der Statur eines
Basketballspielers.
Kate erkennt den Nadotaxinado-Kreis und nickt
dem Fahrer zu, der am freundlichsten aussieht.
»Ich heiße Nikolai - Nick«, stellt er sich lächelnd auf
Englisch vor. Er erklärt, dass er früher Lehrer war, sich dann aber
entschlossen hat, Geschäftsmann zu werden: Er hat sich das Geld für den Wagen
von Freunden geliehen, arbeitet jetzt als Fahrer und zahlt den Freunden, die
ihm das Geld geliehen haben, ein Drittel seines Profits.
»Geben Sie mir doch Ihr Gepäck«, schlägt Nick vor und
öffnet den Kofferraum eines zerbeulten blauen Volvos. Zu spät. Kate hat ihre
kleine Reisetasche bereits neben sich auf den Sitz gezogen und hält ihre
Handtasche fest umklammert. Dass ihr die Papiere gestohlen werden, hätte jetzt
gerade noch gefehlt. Besonders weil am Ausgang des Flughafens ein leuchtendes
Schild nüchtern und voller Schreibfehler warnt: Administrasion
does not bear responsobility for lugage that is not looked after.
Die Stadt ist lichtüberflutet. Als sie den Fluss in
Richtung Stadt überqueren, ist Kate von der Aussicht wie hypnotisiert. Grüne
Lichtstrahlen laufen kreuz und quer über die Figur der ernsten Riesin mit
Schwert und Schild. (»Offizieller Name Mutter-Heimat-Statue, aber wir
nennen sie Die Geisterfrau«, scherzt Nick.) Kates Hotel steht
am Hauptplatz. Die Wände sind frisch getüncht, die Rezeption wirkt einladend
und modern. Zwar gibt es auch hier eine Empfangsdame, aber die lächelt! Kate
wagt nicht, um eine Tasse Tee zu bitten, aus Angst, dass diese freundliche Fata
Morgana sich in Luft auflösen könnte.
Das Hotelzimmer ist frisch renoviert, vermutlich das Werk
eines farbenblinden Designers. Blaue Vorhänge mit rosa Tulpen werden durch
einen grünen Teppich und einen schweren braunen Bettüberwurf ergänzt. Kein
Wunder, dass Raffaels pummelige Engel auf dem gerahmten Poster so verblüfft
dreinschauen! Um ihren Augen etwas Erholung von den grellen Kontrasten zu
gönnen, blickt Kate durchs Fenster auf den Hauptplatz und merkt, dass die
künstlerischen Prinzipien dieses Hoteldesigners hier weiter verbreitet sind
als vermutet. Mehrere Monumente, die überhaupt nicht zusammenpassen, quetschen
sich nebeneinander auf den Platz. Die Statue eines Mädchens mit goldenen
Flügeln, hoch oben auf einer wuchtigen Säule, steht mit abgewandtem Gesicht
direkt gegenüber von Kates Fenster. Was sie wohl für einen Gesichtsausdruck
hat?, denkt Kate. Ist sie ernst? Lächelt sie? Warum hat sie Flügel? Sie
beschließt, sich auf den Platz hinauszuwagen und der Statue ins Gesicht zu
schauen. Passenderweise kommt ihr der Ausdruck »der Gefahr ins Auge sehen« in
den Sinn. Sie steht noch eine Zeitlang am Fenster und lässt den Anblick als
Ganzes auf sich wirken: den Halbkreis karger Gebäude, gemildert durch das orangefarbene
Leuchten der Straßenlampen; das grüne und blaue Flackern der Reklameschilder
auf den Dächern, bunt schillernde Wasserfontänen und eine hell erleuchtete
Kirche wetteifern mit dem Fernsehturm am Horizont. Die Angst überwältigt sie
zwar noch nicht, beginnt sich aber bereits unter dem Deckel der Erstarrung zu
regen. Wird sie hier beobachtet? Ist ihr irgendjemand - der Jemand,
jene geheime Macht, die Andrij ermordet hat - den ganzen Weg über gefolgt? Hat
dieser Jemand die Zoll-Barbie instruiert, den Fahrer Nick vorgeschoben, der
Empfangsdame das Lächeln beigebracht? Ist all dieses freundliche Drumherum nur
Show, bevor sie zuschlagen werden?
Kate reibt sich die Stirn und versucht, diese albernen
Gedanken zu verscheuchen.
Hier würde man sie jedenfalls ganz
bestimmt nicht anrühren - nicht inmitten der Lichter, nicht vor all diesen
Zeugen, den vorbeiflanierenden Passanten. Der Platz liegt nur wenige Minuten
entfernt, sie muss den Hügel hinunter und durch die
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