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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Unterführung.
    Der Milizsoldat in der Lobby betrachtet sie von oben bis
unten, bevor er beschließt, sie gehen zu lassen, ohne irgendwelche Fragen zu
stellen. Ich hoffe, er lässt mich auch genauso wieder rein, denkt Kate.
    Durch die Unterführung gelangt sie in eine andere Stadt:
dämmrig beleuchtet, erfüllt von Zigarettenrauch und der Kakophonie unerwarteter
Geräusche - das Klirren von Bierflaschen, heiseres Gelächter, Bruchstücke
fremdartiger Musik, die fordernden Rufe von Bettlern jeder Gestalt und jeden
Alters.
    Mein Gott, so gegensätzliche Welten, nur zehn Schritte
voneinander entfernt!, denkt Kate und quetscht sich durch die Menge, vorbei
an der endlosen Reihe von Kiosken mit den chinesischen Versionen aller nur
denkbaren Kosumartikel.
    Egal, ich bin ja schon fast da. In ein paar Minuten
schwelge ich in dem orangen Leuchten. Aber jemand versperrt ihr den Weg.
Eine junge Zigeunerin, an deren blasser Brust ein Baby saugt, steht auf der
untersten Treppenstufe. Sie bewegt sich nicht, lässt Kate nicht an sich vorbei,
steht einfach nur da, die rechte Hand zu Kate ausgestreckt - schweigend,
konzentriert. Kate macht einen Schritt nach links. Die junge Zigeunerin tut
dasselbe, stößt die Hand näher an Kates Gesicht und gefährlich nah an ihre
Handtasche. Kate weicht zurück und eilt den Weg zurück, den sie gekommen ist:
durch die verrauchte Unterführung, die Treppen hinauf, zur Granitplattform vor
ihrem Hotel. Sie bleibt stehen, schnappt nach Luft und spürt im selben Moment
einen heftigen Stoß gegen die linke Schulter, als jemand versucht, ihr die
Tasche zu entreißen. Kate zieht sie heftig an sich und wendet sich frontal
gegen den Angreifer. Aber da ist kein Angreifer. Ein junger Skateboarder, dem
Kate in den Weg gelaufen ist, bremst scharf und brüllt sie an. Dieses eine Mal
ist sie froh, dass sie die Sprache nicht versteht, obwohl die Art, wie er nach
seinem kurzen Statement auf den Gehweg spuckt, am Sinn seiner Worte keinerlei
Zweifel lässt. Kate biegt links ab, weg von dem Platz, in eine ruhigere Straße,
an einem azurblau-weißen Gebäude vorbei, in dessen Vitrine Fotos glamouröser,
künstlich lächelnder Frauen im Stil der fünfziger Jahre hängen. Das muss ein
Theater sein. Der draußen wartenden Menschenmenge nach zu urteilen (frisch mit
Eau de Cologne und Parfüm eingesprüht), beginnt jetzt gleich die Vorstellung.
Ein unrasierter Mann tritt vor Kate hin und wedelt ihr mit seinen Tickets vor
dem Gesicht herum, in einem letzten Versuch, die Karten loszuwerden. Kate
weicht ihm aus und hastet ein paar Stufen hinauf, auf der Suche nach einer
ruhigeren Ecke.
    Was für eine Stadt! Kaum hat sie gedacht, Kiew heiße sie
freundlich willkommen, lauert überall Gefahr. Oder ist sie nur überempfindlich?
    Zu ihrer Linken sieht sie ein massiges graues Gebäude, wie
sie noch nie eines erblickt hat. Es scheint zu leben, sich zu bewegen,
dahinzugleiten wie eine Burg aus Treibsand. Wie gequält es wirkt! Mit seinen
sechs rückwärtigen Stockwerken klammert es sich verzweifelt an den Hügel, zur
Straße hin erscheint es dreistöckig. Auf dem Dach grimassieren Frösche, von den
Säulen grinsen Meeresungeheuer herab, ein Oktopus streckt seine Tentakeln aus.
Kate überlegt, wie es wohl wäre, hier vom Dach zu springen. Täte sie es auf der
Rückseite des Hauses, würde sie den sanften Hang hinabrollen, zerkratzt von
dürren Zweigen und zerbrochenen Ziegeln. Sie würde zahllose Frakturen und
Schnittwunden davontragen, aber vermutlich überleben, abgefedert durch Tausende
vermoderter Blätter vom letzten Jahr. Sprang sie jedoch vor, dann würde ihr
Körper auf eines der Rhinozeroshörner über der Tür prallen oder von dem Geweih
über der Eingangstür aufgespießt oder gegen eine der harten Betonkanten
geschleudert werden. Kate bleibt stehen und fasst ihr Haar mit einer raschen
Bewegung zu einem straffen Pferdeschwanz zusammen. Hier ist es viel stiller:
keine Sirenen, keine Schreie von Betrunkenen. Eigentlich ist es zu still. Die
meisten Fenster sind dunkel - es muss ein Büroviertel sein.
    Ein einsamer Brotlieferwagen wird gerade vor der Bäckerei
entladen. Kate kommt näher, hofft, hier nach dem Weg fragen zu können und
vielleicht, nur vielleicht, für ein bisschen Kleingeld eine frische Semmel zu
ergattern - sie ist sehr hungrig. Zwei stämmige Männer arbeiten im gleichen
Takt: Mit kräftigen Händen, einer raschen Bewegung, wird die zugedeckte
Brotkiste herausgehoben. Kate will gerade nach der Richtung fragen,

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