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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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als einer
der Arbeiter sich umdreht und sie so eisig-feindselig anstarrt, dass sie abrupt
stehen bleibt und lieber selbst im letzten Dämmerlicht den Stadtplan studiert.
Zu ihrer Erleichterung ist sie gar nicht weit vom Hotel entfernt: links
abbiegen, dann nochmals links. Die Dämmerung ist eine interessante Tageszeit,
denkt sie. Alle Konturen werden unscharf, ja selbst die Empfindungen verwischen.
Man weiß nicht mehr, ob man Angst hat, sich in der unbekannten Stadt zu
verlaufen, oder ob es die archaische, animalische Angst ist, verfolgt zu
werden.
    Ihr fällt ein, dass außer Sandra und jenen Personen, von
denen sie sich beobachtet glaubt, niemand auf der Welt weiß, wo sie sich befindet.
Die Straße wirkt jetzt schmaler und dunkler. Das einzige Geräusch hier sind
ihre hallenden Schritte, und plötzlich kommt ihr das besoffene Gegröle in der
Unterführung viel angenehmer vor.
    Sie hört seine Stimme, bevor sie ihn sieht. Der Tonfall
klingt streng und direkt, heischt bedingungslosen Gehorsam. Sie erkennt sogar
die Worte wieder: Idy sjudy nehajno! »Komm
sofort!« So hat Babusya sie immer sonntags zum Essen
gerufen. Doch Babusyas Worte klangen warm und
teilnahmsvoll, höchstens mal ein bisschen ärgerlich, wenn Kate zu tief in ihre
Phantasiewelt versunken war. Aber das hier ist ein Befehl. Sie kann den Mann
nicht sehen. Er befindet sich irgendwo im Dunkeln und schreit diese Worte, die
sie versteht. Erwartet, dass sie ihm gehorcht, und zwar sofort. Sie könnte
jetzt zurückrennen, die Treppen hinunter, zurück zu dem Platz voll rasender
Skateboardfahrer, aber er dürfte wohl schneller sein als sie. Es ist sein
Territorium, seine Stadt - er kann im Dunkeln zwei Stufen auf einmal nehmen.
Sie könnte versuchen, ihm zu antworten, empfindet aber solche Panik, dass ihr
all die anderen Worte, die Babusya ihr
beigebracht hat, entfallen sind. Der Befehl ertönt erneut, und jetzt sieht sie
eine Silhouette: ein kleiner, untersetzter Mann, der einen Arm an den Körper
presst, die Hand zur Faust geballt, und mit der anderen Hand ungeduldig das
Seil schwingt. Seine Stimme klingt recht jung; Kate hat ihn sich deshalb
schlanker und fitter vorgestellt. Womöglich ist er ja vom alten KGB, vielleicht
pensioniert - aber warum sollten auch junge Agenten ihre Energie an sie
verschwenden? Und was will er mit dem Seil?
    Er befindet sich noch etwa zehn Schritte entfernt, unter
dem Kastanienbaum. Immer noch weit genug entfernt, dass sie ein paar Gedanken
fassen kann. So schmeckt Angst: metallisch, ein intensiver Geschmack, kein
Speichel, nicht bitter. Im Bruchteil einer Sekunde trifft sie die Entscheidung,
die er am wenigsten erwartet - sie rennt auf ihn zu und stößt ihn beiseite.
Während sie weitersprintet, starrt ihr im schwindenden Abendlicht total
schockiert ein alter Mann hinterher. Er folgt ihr nicht. Verblüfft verlangsamt
sie ihr Tempo, blickt zurück.
    Der Mann steht immer noch da, unter dem Baum. Er bückt
sich, befestigt das Seil an einem Gegenstand auf dem Boden, während er gedämpft
seinen Befehl wiederholt. Doch hat sich der Tonfall geändert. Jetzt klingt es
wie eine Mischung aus mildem Vorwurf und Zärtlichkeit. Kate bricht auf dem
Gehweg zusammen, zitternd, die Augen voller Tränen. Der Mann geht an ihr
vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Er ist viel zu sehr damit
beschäftigt, den rebellischen Scotchterrier auszuschimpfen, den er gerade
wieder an die Leine genommen hat. Heute Abend gibt's keine Leckerli, so viel
steht fest. Hätte sich der Mann noch einmal umgewandt, dann hätte er unter dem
Kastanienbaum das seltsame Mädchen gesehen, wie sie auf dem Randstein hockt,
vor- und zurückschaukelt und ihre Nägel in die Knie gräbt. Kate kriegt sich
kaum noch ein vor Lachen.
     
    19
     
    Kiew, Kloster Lawra, April 2001
    Wie soll sie diese Leute voneinander unterscheiden? Einige
sind wohl Pilger, andere Touristen. Alle Frauen tragen Kopftücher, und die
meisten Frauen bekreuzigen sich rasch. Und alle blicken nach unten, als lägen
die Wahrheit, der Geist, die Kraft, nach denen sie suchen, unter den massiven
Bleitoren verborgen. Sie passt nicht dazu - kein Kopftuch, und sie schaut nach
oben. Warum blicken sie nicht nach oben? Dort befindet sich das Göttliche - die
gewaltige Kuppel, komplett bemalt, die Erzengel, die auf sie herabblicken,
und ein wirbelndes Rad aus Licht, das durch Dutzende schmaler Fenster unterhalb
der Kuppel strömt. Sie hört die Glocken läuten: die Bordun-Glocke, die den
Takt vorgibt, und die

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