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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Sopranglocken, die den Stoff der Melodie weben und die
Gläubigen zum Gottesdienst rufen. Sie folgt dem Menschenstrom: vorbei an dem
langen Tisch mit Brotlaiben, Eiern und Honig - Gaben für die Mönche -, vorbei
an dem bronzenen Kerzenleuchter, der den Schimmer der dünnen orangeroten
Wachskerzen reflektiert, näher zum Altar, wo ein junger Priester ein Gebet
murmelt. Die mandeläugige Madonna blickt von ihrem weißen, mit Schnitzereien
reichverzierten Sockel herab. Kate haucht vertraute Worte, wiederholt sie,
nachdem der Priester und der Chor sie vorgebetet haben.
    In der von Weihrauch und Gebeten erfüllten, von Kerzen
erleuchteten Luft scheint die Madonna den Kopf zu bewegen - nicht einmal ein
Nicken, nur die kaum wahrnehmbare Illusion einer Bewegung.
    »Ich weiß«, murmelt Kate, »ich weiß. Ich werde es tun, ich
bin schon fast so weit.«
    Es ist erstaunlich, wie langsam hier die Zeit vergeht.
Kate hat bereits neunzehn Stunden in diesem Land verbracht: Sie hat den Platz
betrachtet, sich nachts auf der harten Matratze hin und her gewälzt, sich ein
Taxi genommen, um die alte Professorin zu besuchen. »Es gibt einen Menschen,
der mehr über diese Geschichte weiß als alle anderen«, hatte Andrij auf dem
Rückflug von Buenos Aires gesagt. »Schade, dass wir sie nicht jetzt gleich
besuchen können. Vielleicht später mal. Erinnerst du mich dran?« Er hatte den
Namen auf die Rückseite eines der Blätter in dem Ordner gekritzelt. Zu Kates
Überraschung kannte er sogar die Adresse auswendig. Kate wollte ihn fragen,
warum, kam aber nicht mehr dazu.
    Da ihr Treffen in Lawra erst um zwei Uhr stattfand,
beherzigte sie Andrijs Vorschlag und nahm sich ein Taxi, um die Professorin zu
besuchen. Aber mehr, als ihr einen Besuch abzustatten, konnte Kate nicht tun:
Die alte Dame war zwar sehr freundlich, doch sie konnten sich kaum
verständigen. Das Einzige, was sie verstand, waren die Wörter »Cambridge« und
»Kosaken«. Nach diesem Treffen blieb Kate noch so viel Zeit, dass sie sich
Lawra ansah und sämtliche Museen und Kirchen besuchte, die sie finden konnte.
    Sie blickt auf die Uhr. Zeit, zum Tor zurückzukehren.
Endlich! Dort steht bereits ein junger Mann in schwarzer Soutane. »Kate? Der
Prior erwartet Sie. Mein Name ist Bruder Sergij. Ich werde bei Ihrem Treffen
mit dem Metropoliten als Dolmetscher fungieren, wenn es Ihnen recht ist.« Er
verfügt über eine dröhnende Bassstimme und spricht in einem melodiösen
Singsang. Er muss Solist sein, oder vielleicht haben hier alle Chormitglieder
so gute Stimmen, denkt Kate. Sein Englisch, mit dem Hauch eines gedehnten
amerikanischen Akzents, ist erstaunlich korrekt. »Wo haben Sie denn so gut
Englisch gelernt?«, erkundigt sie sich nach einigem Zögern. Offenbar ist sie
nicht die Erste, die ihn das fragt, denn er antwortet prompt, in einem Ton, der
jede weitere Frage unterbindet: »Ich habe in Harvard Politikwissenschaften
studiert, mit einem ukrainischen Stipendium. Aber mir wurden die Augen
geöffnet. Politik ist ein sehr begrenztes Thema, Gott hingegen ist überall.«
    Schweigend erreichen sie das Wohnhaus des Priors. Der
Prior wartet bereits am Eingang auf sie. Kate ist erleichtert, als sie sein
vertrautes, lächelndes Gesicht erblickt. »Kateryna, wie schön, Sie
wiederzusehen!«, ruft er fröhlich, senkt dann aber besorgt die Stimme. »Was
ist denn los - Ihr panischer Anruf, die Bitte um ein Treffen mit dem
Metropoliten? Gott muss Sie erhört haben, denn der Metropolit ist heute hier in
Lawra, um zu sehen, wie weit die Vorbereitungen für den Ostergottesdienst
gediehen sind. Sie wissen hoffentlich, wie Sie ihn ansprechen müssen?« Kate
wirkt überrascht. Sagt man nicht einfach Metropolit? Der Prior
fährt fort. »Ihnen ist sicherlich klar, dass er kein Bischof ist - er ist das
Kirchenoberhaupt, wie Ihr Erzbischof von Canterbury. Ja, in den slawischen
Kirchen stehen die Metropoliten im Rang sogar noch über den Erzbischöfen. Er
ist der Metropolit und Höchstgesegnete, er wird oft Wladyka genannt,
seine Erhabenheit Wasche Preoswjaschtschenstwo.«
    Gemeinsam betreten sie das Gebäude, Bruder Sergij bleibt
ein paar Schritte hinter ihnen.
    »Fassen Sie sich kurz und kommen Sie gleich zur Sache«,
flüstert der Prior. »Ich weiß ja nicht, was Sie ihm zu sagen haben, aber ich
hoffe, es ist wirklich wichtig, Kateryna - ich riskiere Kropf und Kragen.«
    »Kopf«, will Kate ihn schon verbessern, verkneift es sich
aber. Bevor er die Tür zu seinem Büro öffnet, dreht sich der

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