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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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seine
Hilfe in Anspruch nehmen sollen? Oder wenigstens mit ihm über die Situation
sprechen sollen?
    Achtundvierzig Stunden! Mein Gott! Irgendwie muss sie die
Zeit totschlagen. Sie blättert durch den Stadtführer: ... Podol, am
Fluss gelegen, ist ein alter Stadtbezirk der Handwerker und Händler. Der Name
bedeutet »unterer Teil, Grenze, Saum eines Kleids«, und tatsächlich säumte
dieses alte Viertel, das sich bis an die Ufer des Dnjepr erstreckt,
jahrhundertelang die Palaststadt auf den Hügeln. Mehrere Straßen verlaufen von
der Oberstadt nach Podol hinunter. Die bekannteste heißt... Kate
weiß, wie sie heißt. Wie viele Male hat sie diesen Namen geübt?
    Diese Straße ist für Kiewer und Besucher zu einem Kultort
geworden. Dafür gibt es mehrere Gründe. Kate hat
ihren eigenen Grund, dorthin zu gehen. Nicht mehrere Gründe, nur einen
einzigen. Sie schaut auf die Karte - zu Fuß ist es ein langer Weg, aber es geht
die ganze Zeit bergab, meist durch belaubte Parkalleen. Vielleicht begegnet
sie ja noch ein paar Leuten mit Hund, für eine Extraportion Adrenalin.
     
    Das Zentrum von Podol, Kontraktowa Ploscha, begrüßt sie im
vollen Make-up frischgetünchter Gebäude, lädt sie in Dutzende von Restaurants
und Läden ein. Stattdessen wählt sie einen anstrengenden Weg bergauf. Den
eigentlichen Grund dafür, dass sie sich diese steile, kopfsteingepflasterte
Straße hinaufquält, gesteht sie sich erst ein, als sie schon fast oben
angekommen ist. Sie bleibt stehen, als wollte sie die Gedenkplakette an der
Wand entziffern; in Wirklichkeit holt sie Luft und versucht sich zu erinnern,
wann sie eigentlich zum letzten Mal im Fitnessstudio gewesen ist. Kein Wunder.
Sie setzt ihre Gipfelbezwingung fort, kommt ihrem Ziel langsam, aber sicher
näher und lässt den Blick über den florierenden Straßenhandel schweifen, über
die vielen Stände entlang dem Weg: knallbunt bemalte Holzsouvernirs und
pseudoantike Ikonen, kunsthandwerkliche Tongefäße, bestickte Handtücher,
Aquarelle und Ölgemälde in allen Formen und Größen. Sie bleibt erneut stehen,
dieses Mal vor einer großen Leinwand in aggressiven Farben, ausgespannt auf
einem groben, nicht gefirnissten Holzrahmen. Ein scharlachroter Hund schläft
unter einem krumm zurechtgezimmerten Tisch, der mit einem Tuch von
unnatürlichem Weiß bedeckt ist. Die Objekte, aus denen der Künstler das
Stillleben auf dem Tisch komponiert hat, müssen eine Bedeutung haben: ein antiker
Kelch mit Wein, stachelige schwarze Samenkapseln, eine schimmlige Walnuss. Ein
weißer Vogel schläft neben der Walnuss, den Kopf unter die Flügel gesteckt. Den
dunkelblauen Hintergrund bildet eine wilde Kakophonie aus Gestalten und Gesichtern.
    Aus dem Nichts erscheint ein Schatten mit langen, fettigen
Haaren und beginnt mit einem monoton heruntergeleierten Vortrag: »Lassen Sie
mich Ihnen die Symbolik des Bildes erklären. Der Hund ist Ihre Lebenskraft. Er
bewacht das weiße Tuch Ihres Lebens, er bewacht Ihre Pläne, die in der Walnuss
und den Zukunftssamen beschlossen liegen. Im Weinkelch liegt die dunkle Magie
des Lebens, und der weiße Vogel ist Ihr Traum, Ihr noch
nicht entdecktes Ich.« Er betont das »Ihr«, zieht es mit starkem Akzent in die
Länge, blickt an Kate vorbei. Für ihn ist sie nur eine von vielen Kundinnen,
die bereit sind, für seine Seele, seine Kreativität Geld zu bezahlen.
    Sie gesteht sich ein, dass all dies mit Andrij
zusammenhängt, dieser mühsame Aufstieg, der Akzent des Künstlers, der Name der
Straße - Andrijiwsky Uswis, Andreasstraße, mit der Sankt-Andreas-Kirche oben
auf dem Berg. Sie kauft das Bild. Zurück im Hotel, sucht Kate das Spiegelbild
ihres eigenen Lebens in dem Bild. Der rote Hund der Lebenskraft hat sie
verlassen, und über das Tischtuch zieht sich eine schmale Blutspur. Der
magische Kelch des Lebens ist leer, der Traumvogel ist verschwunden, und sie
kann nichts tun, um das befleckte Tuch, die verschrumpelte Walnuss und die
herumliegenden Samen zu bergen. Aber das ist im Moment nicht ihr Hauptproblem.
Sie hätte vorher dran denken sollen. Aber sie hat es nicht getan. Beim Kauf
dieser »Hunde-Saga« hätte sie doch eigentlich sehen müssen, dass das Gemälde zu
groß ist. Nicht nur zu groß für ihre Reisetasche, einfach zu groß für alles:
für das Flugzeug, für die Wohnung, um es herumzutragen. Kate hofft immer noch
auf ein Wunder, reißt ihre Tasche auf und holt alles heraus. Erst jetzt bemerkt
sie ein kleines Päckchen, in braunes Papier eingewickelt,

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