Shevchenko, A.K.
überhaupt
sagen? Wie werden sie sich verständigen? All die Fragen, die sie stellen will,
all die Worte herzlicher Anteilnahme, die sie aussprechen möchte ... Sie sitzt
eine Weile auf dem Treppenabsatz. Im Stockwerk über ihr geht knarrend die Tür
auf, man hört schlurfende Schritte, jemand hustet. Kate blickt auf. Ein
runzliges Wesen in Pyjamahosen und Wolljacke quält sich mühsam die Treppe
herunter. Kate begreift, dass sie im nächsten Moment ein Riesenhindernis
darstellen wird, das dem lebensverlängernden Wunsch nach frischer Luft im Wege
steht. Am schnellsten weicht sie der Gestalt (Kate kann nicht sagen, ob es ein
Mann oder eine Frau ist) dadurch aus, dass sie in die Wohnung geht. Sie drückt
auf den Klingelknopf. Es ertönt eine Strauß-Melodie, zu lebhaft für diesen Tag,
völlig fehl am Platz, und sofort geht die Tür auf, als habe schon jemand
wartend dahintergestanden. Als schockiere die unpassend heitere Melodie die
Menschen drinnen genauso wie Kate.
Eine kleine, grauhaarige Frau mit den Augen eines weisen,
müden Vogels lässt Kate herein. Sie stellt keine Fragen, so als sei sie das
ständige Kommen und Gehen von Gästen gewohnt. Kate folgt ihr in die Wohnung und
begreift, warum.
In dem Zimmer wartet Andrij auf sie. Kate geht direkt auf
Andrijs Augen zu, auf sein ironisches Lächeln. Aber es ist nicht der Andrij,
den sie kennt. O Gott, die falsche Zeitform - es hätte heißen müssen: nicht
der Andrij, den sie kanntel Es ist
das Foto eines jüngeren, weicheren Andrijko, noch für alles offen, was ihm das
Leben bieten wird. Doch vielleicht sieht er nur jünger aus, weil neben der
Fotografie eine Kerze brennt und das Bild in ihren warmen gelben Schein taucht.
Über die rechte Ecke des Porträts verläuft eine schwarze diagonale Linie. Neben
dem Foto, auf dem bestickten schwarz-roten Handtuch, genau das Gleiche wie bei
ihrer Babusya, steht ein kleines Glas Wasser, mit
einer Brotscheibe bedeckt. Für seine durstige und hungrige Seele, solange er
noch hier bei uns weilt, vermutet Kate.
Kates Gastgeberin sitzt auf dem Sofa, aufrecht, die Hände
sorgfältig auf den Knien platziert. Sie trägt eine schwarze Spitzenbluse mit
einer weißen Kamee-Brosche, ihr dünnes Haar ist ordentlich mit einem
Schildpattkamm zusammengesteckt. Sie wirkt wie eine spanische Gräfin auf einem
alten Gemälde: makellos, gefasst, nobel in ihrem Kummer. Kate entnimmt ihrer
Handtasche die Fotografie. Sie hat nur dieses eine Foto, das sie und Andrij
gemeinsam zeigt - sie sitzen in dem Cafe in Buenos Aires, eine träge brennende
Kerze zwischen sich. Kate erinnert sich an den mürrischen Kellner, der Andrij
zu erklären versuchte, dass er genug damit zu tun habe, Asados zu
servieren, und nicht dafür da sei, die Gäste zu fotografieren. Andrij jedoch
tat, als verstünde er ihn nicht, und bat sogar noch um ein zweites Polaroidfoto
- eins für Andrij, eins für sie. Kates Gastgeberin betrachtet das Foto und
presst ihre Hände ineinander. Dann greift sie nach Kates Hand und versucht
etwas zu sagen, mit der heiseren Stimme der langjährigen Raucherin, etwas
Wichtiges. Sie zeigt auf die Schuhschachtel auf dem Tisch. Die Schachtel ist
voller Fotografien von Andrij. Kate vermutet, dass sie sich eine aussuchen
darf. Sie wählt zwei Bilder aus. Das eine zeigt Andrij mit einer Angel am Ufer.
Auf diesem Bild ist er noch ein Junge, dreizehn vielleicht, ganz im Einklang
mit der Natur und sich selbst. Das andere Bild zeigt ihn bei seiner
Abschlussfeier. Andrij ist in der ersten Reihe der Einzige, der lächelt. Genau
so war er, denkt Kate. Lässig und ironisch, egal wie feierlich und ernst der
Anlass auch sein mochte.
Andrijs Großmutter bringt eine Tasse Kaffee aus der Küche.
Sie schafft es, sie vor Kate abzusetzen, ohne etwas zu verschütten, obwohl
ihre Hände so heftig zittern, dass ein Löffel mit traurigem Klimpern zu Boden
fällt.
Kate reicht ihr das kleine braune Päckchen. »Ich kann es
gern für dich aufgeben«, hatte sie zu Andrij gesagt. »Wir schicken regelmäßig
Sachen in die Ukraine, wir haben spezielle Tarife. Dann erreicht es deine Oma
schnell und sicher.«
»Siehst du?«, sagt sie jetzt und sieht ihm direkt in die
Augen. »Ich hab dir ja versprochen, dass das Päckchen schnell und sicher persönlich
bei deiner Oma abgegeben wird!«
Sara Samoilowna packt das Päckchen aus. Es ist ein Vogel
drin, aus rosarotem Stein gemeißelt. Ein Eisvogel.
Kate versucht ihr zu erklären, dass dieser Halbedelstein
namens Rhodochrosit für
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