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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Argentinien typisch ist und dass Andrij den Vogel in
einer Boutique in San Telmo in Buenos Aires gekauft hat, aber sie gibt bald auf
Andrijs Großmutter streichelt den Vogel sanft wie einen Nestling und stellt ihn
neben Andrijs Bildnis. Wieder umschließt sie Kates Hand mit ihren trockenen,
kleinen Händen, und dann sitzen sie zu dritt da und betrachten die Kerzenflamme.
Kate, ein zerzauster Spatz; Sara Samoilowna, ein grauhaariger Star; und ein
rosaroter Eisvogel aus Argentinien. Drei Vögel, die kummervoll
nebeneinanderhocken. Kate ist plötzlich froh, dass sie nicht die gleiche
Sprache sprechen. Sie kann Sara zwar keine Fragen nach Drogen und Lügen
stellen, aber das ist auch gar nicht nötig. Die Schuhschachtel mit den Fotos
hat ihr sämtliche Antworten gegeben. Nachdem sie anhand vieler Momentaufnahmen
Andrijs Leben entdeckt, sein offenes, ironisches Lächeln erwidert hat, weiß
sie, dass es kein Unfall war, egal zu welchem Befund die Polizei in Cambridge
kommen wird. Und es war auch kein Suizid. Doch selbst wenn sie den ukrainischen
Begriff dafür wüsste, würde sie es nie übers Herz bringen, gegenüber Andrijs
Großmutter jene furchtbaren Worte auszusprechen: »ungeklärter Mordfall«.
    Schweigend sitzen sie beisammen, bis Kates Zeit abgelaufen
ist. Sie zeigt Sara Samoilowna das Zugticket, und dann ruft Sara ein Taxi, das
sie zum Bahnhof bringt.
     
    Als Kate den Liegewagen betritt, sitzen schon zwei
Mitreisende drin, Männer im Unterhemd. Sie müssen schon geraume Zeit vor ihr da
gewesen sein, denn sie befinden sich mitten im Kartenspiel und sind schon bei
der zweiten Flasche Wodka angelangt. Kate nickt ihnen zu und will in ihr oberes
Stockbett klettern, als einer der Männer ihr zuzwinkert und ein Glas mit Wodka
füllt. Kate schüttelt den Kopf, doch der Mann - übersprudelnd von guter Laune
und seinem Verständnis von Gastfreundschaft - drückt ihr das Glas in die Hand.
Widerstrebend nippt Kate daran. Der Alkohol fließt ihr brennend die Kehle
hinunter und betäubt den anderen Schmerz. Einen Moment lang versteht sie die
Menschen, die bei Kummer auf die heilende Kraft des Alkohols schwören und
später bei den Anonymen Alkoholikern landen. Schließlich bleibt sie an der
Abteiltür stehen und lauscht den Scherzen der Männer. Ihre Mitreisenden sind
Ölarbeiter, die jeweils vierzehn Tage hintereinander auf der Bohrinsel
malochen und den Rest des Monats bei ihren Familien verbringen (prompt zücken
die Männer Kinderfotos, tätscheln liebevoll ihre Eheringe). Kate steht eine Weile
da, beobachtet das Kartenspiel, versucht die Regeln zu kapieren und trinkt noch
ein zweites Glas von dem brennenden Zeug, bevor sie in ihr Stockbett
hinaufklettert und in einen tiefen, traumlosen Schlaf versinkt.
     
    Sie erwacht von dem Geruch nach Erdöl. Schlaftrunken merkt
sie, dass sie keine Luft bekommt, den Mund nicht öffnen kann. Jemand würgt sie.
Sie versucht, sich zu bewegen, sich aufzurichten, aber etwas Schweres liegt auf
ihr und drückt sie aufs Bett. Als sie endlich begreift und schreien will, ist
es zu spät - der Schrei wird erstickt, verliert sich in einer ölimprägnierten
Handfläche, die ihr den Mund zuhält. Es ist zu spät, um Angst zu haben, und ihr
Gehirn registriert die Situation mit der nüchternen Logik einer Ermittlungsbeamtin:
Auf ihr liegt ein betrunkener, stinkender Mann und versucht, ihr die Jeans
herunterzuzerren. Sie zappelt wie wild, ringt nach Luft, schlägt gegen die
Wand, krallt die Fingernägel in seine schweißnasse Schulter. Der Vergewaltiger
gibt keinen Laut von sich, nur direkt an ihrem Ohr hört sie sein heiseres,
gehetztes Keuchen. Plötzlich grunzt er laut auf, wie ein Tier, und wird schlaff
und weich wie ein überdimensionaler Teddy. Er schiebt sich von ihr herunter,
und alles ist so schnell vorbei, wie es begann; er liegt wieder unter ihr in
seinem Bett, ihre Jeans sind noch intakt, und sein betrunkener Freund schnarcht
im Bett gegenüber. Kate weiß, was sie zu tun hat. Sie wird warten, bis er
eingeschlafen ist, dann die Abteiltür aufschieben, sich hinausschleichen und um
Hilfe bitten. Aber sie tut es nicht. Stattdessen dreht sie sich zitternd der
dünnen Wand des Waggons zu, rollt sich zusammen, zieht die Knie an die Brust
und fixiert das grüne Muster. Sie muss erneut eingeschlafen sein, denn als
Nächstes merkt sie, dass der Zug steht und dass sie am Rücken friert, weil
kühle Luft zur Abteiltür hereinkommt. Man hat die Tür aufgeschoben. Kate spürt
das rege Treiben in ihrem

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