Shevchenko, A.K.
das in der linken
Ecke eingeklemmt liegt. O Gott, wie hatte sie das nur vergessen können? Was
soll sie bloß damit machen?
Sie rechnet nach, in wie viel Stunden Bruder Sergij sie
anrufen wird. Na ja, sie könnte es gerade noch schaffen. Wenn sie sich beeilt,
wenn es Tickets gibt, wenn ... Beim siebten »Wenn« unterbricht sie sich und
wirft die Gegenstände wieder in die Tasche zurück.
Eins muss sie noch für Andrij tun; sie muss noch etwas
abgeben. Das wird keine leichte Begegnung werden. Wahrlich nicht.
20
Lemberg, Westukraine, April 2001
Warum hab ich nicht versucht, den Flieger zu kriegen? Es
wäre so viel einfacher gewesen! Ein Flug von nur vierzig Minuten - na gut, in
einer lärmenden, unbequemen AN -24, aber
wenigstens säße ich jetzt hier nicht zwölf Stunden im Zug fest. Warum habe ich
den Rat des Hotel-Reisebüros befolgt? Sie ist wütend auf sich selbst. Der Zug
ist überraschend sauber. Das uniformierte Mädchen hat gerade auf einem
reichverzierten Teetablett aus Aluminium Tee für Kate und ihre Reisegenossin
gebracht, eine betuliche Dame in den Sechzigern. Seit zwei Stunden redet sie
wie ein Wasserfall, Kate könnte mittlerweile alle Geschichten nacherzählen. Sie
hat genug davon begriffen - die alten vertrauen Vokabeln, das Mienenspiel, die
vielen Gesten: Die Frau lebt in Lemberg und hat in Kiew ihre Tochter und ihren
zweijährigen Enkel besucht, der unglaublich süß ist und hochintelligent (sie
zieht ein Foto des Kleinkinds hervor, platziert es auf dem Buch, das Kate
eigentlich lesen wollte), genau wie ihr verstorbener Ehemann, der vor drei
Jahren oder vor drei Monaten einem Herzinfarkt erlag (ein Kuss, sie zeigt die
Zahl Drei mit den Fingern an, sie führt die Hand ans Herz und schlägt über dem
Foto ihres Mannes rasch ein Kreuz); doch ihren Schwiegersohn mag sie nicht, er
jagt nur dem schnellen Geld nach, hetzt in seiner neuen Lederjacke von einem dieser
neuen Kleidermärkte zum nächsten - vielleicht ist er sogar in irgendwelche Gaunereien
verwickelt. Sie schüttelt die Faust gegen das Bild eines recht gemütlich
wirkenden Mannes, rundlich, mit Bürstenhaarschnitt, der eine kleinere Ausgabe
seiner selbst auf dem Schoß hält. Er entspricht kaum dem Bild, das sich Kate
gemacht hat, als ihre Abteilnachbarin ständig von »Mafia« und irgendwelchen
»Geschäften« redete und dabei das Messer schwenkte, mit dem sie die Wurst
zerschnitt. Oder war die Mafia hinter seinem Geschäft her, und das machte sie
traurig? Diesen Teil der Geschichte kapierte Kate nicht.
Sie lehnt die buntverpackten Pralinen, den Hühnerschlegel
und die Tomate ab, die ihr, in dieser Reihenfolge, angeboten werden, und wendet
sich den Bergen und den weißgetünchten Dörfern zu. Ein Mädchen, das neben einer
schwarzen Kuh steht und den Zügen nachschaut, nimmt ihren bunten Schal ab und
winkt Kate damit zu. Hätte sie eine von Andrijs Schülerinnen sein können? Ein
Pfad, der bergauf in den Wald führt - ist er ihn je entlanggegangen? Hat er
seine Klasse auf den Berg mitgenommen, hinauf zu dem Schloss mit den weißen
Mauern?
Sie steigt am Bahnhof Lemberg aus und landet direkt im Set
eines Fünfziger-Jahre-Films: hohe Glasdecken, Dampfloks. Sie schlendert durch
die Straßen seiner Stadt, lauscht dem Straßenbahngeratter, atmet das Aroma des
Kaffees, das den offenen Türen der Cafes entströmt. Aber er ist nicht hier, um
am Rynok sündhaft starken Kaffee zu trinken.
Kate steigt in ein Taxi und zeigt dem Fahrer die Adresse,
in Andrijs Handschrift auf Ukrainisch auf ein kleines braunes Kuvert notiert.
Sie weiß nicht mal, wie weit sie fahren muss. Fünf Minuten später bleibt der
Fahrer vor einer Villa stehen, deren Bogen Basreliefs mit Löwen zieren. Die
Villa wurde in Wohnungen aufgeteilt. Im Erdgeschoss sieht Kate ein Geschäft mit
vergittertem Fenster und einem Schild mit der Aufschrift Pectopah. Sie weiß
jetzt, was Pectopah bedeutet, ist sich aber nicht
sicher, wen der verbarrikadierte Eingang abhalten soll - randalierende
Teenager oder ausgehungerte Gäste.
Sie tritt unter den Bogen, erreicht den Treppenabsatz im
zweiten Stock, streckt den Finger aus, um auf den Knopf zu drücken, und bleibt
stehen. Vielleicht hatte Carol recht, als sie sagte: »An der Logik hapert's, aber
in Logistik ist sie gut.« Carol hat natürlich immer recht, das behauptet sie
jedenfalls, aber in diesem Fall trifft das sicherlich zu. Kate hat die Logistik
brillant organisiert, ist schnell hierher gelangt - aber was soll sie
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