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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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den englischsprechenden Assistenten des
Präsidenten, der sie zum Flughafen begleitete, bis zum Check-in-Schalter. Er
war kahlköpfig und kugelrund wie ein Teigbatzen, das Rot seiner Krawatte war
zu grell und sein Englisch nicht so gut wie das von Bruder Sergij, aber
wenigstens war sie nicht allein; jemand kümmerte sich um sie.
    Der Präsident lächelt sie vom Nebensitz aus dankbar an,
von der Titelseite der Zeitung, herausgegeben für Ausländer, mit gutem Willen,
doch in schlechtem Englisch. Man versteht, warum ein paar Marketingstrategen
beschlossen haben, die Zeitung ausgerechnet auf diesem Flug auszulegen. Über
dem Foto des Präsidenten steht Gute Reise nach Europa. Seine
offizielle Tour durch die europäischen Hauptstädte beginnt in zwei Wochen, und
ihr Höhepunkt sind die Begegnungen in London. Kate schließt die Augen. Das
Timing könnte nicht perfekter sein. Der Präsident hat sie gefragt, warum sie
das tue. »Ich bin Anwältin, es ist meine Pflicht. Ich folge den Instruktionen
meines Klienten«, hat sie geantwortet.
    »Und was können Sie mir über Ihren Klienten sagen?«,
fragte der Präsident.
    Ah, diese Frage hat sie erwartet. Diesmal ist sie gut
vorbereitet. »Nicht viel.« Sie schüttelt den Kopf »Das Testament enthält leider
eine Vertraulichkeitsklausel.«
    Und was hätte sie ihm auch sagen können? Wie hätte sie
über Andrij sprechen können? Über die Zartheit seiner Berührungen, die sie
immer noch auf ihrer Haut spürt, über den Duft seines Haars nach frischgemähtem
Gras, das in der Sonne trocknet? Sie hätte das natürlich offizieller ausdrücken
sollen. Sie hätte eine banale, allgemeine Formulierung benutzen sollen: »Ich
tue das für den Wohlstand Ihres Landes, für das Neue Europa«, oder etwas in
dieser Art.
    Den wahren Grund konnte sie ihm nicht nennen. Da steht es,
leuchtet ihr von der elektronischen Anzeige über ihrem Tisch wieder
fehlerbehaftet entgegen: Administrasion does not bear responsobility
for lugage that is not looked after. So fühlt sie sich jetzt. Sie hat
die Last der Verantwortung an dieses Land weitergegeben, und im Grunde ist es
ihr egal, wer sich nun um das »Gepäck«, dieses riesige Stück luggage kümmern
wird. Sie kommt sich vor wie eine Zauberin aus einem Bilderbuch. Sie hat den
jahrhundertealten Fluch der Angst gelöst, die Kette von Morden und Verrat
gestoppt. Sie denkt an Andrijs Liste von Menschen, die im Zusammenhang mit dem
Testament verschwunden sind. Was auch immer das für ein Fluch gewesen sein mag,
sie braucht sich nicht mehr zu fürchten. Wovor sollte sie sich fürchten? Sie trägt
keine Verantwortung, ihr geht es recht gut hier an ihrem Formica-Tisch, unter
dem roten Neonschild der Bar Fortuna. Sie sitzt am richtigen Platz, um ihren
Schokoriegel zu verspeisen, entsprechend dem Aufdruck auf der Tischplatte: Mahlzeiten
bitte hier einnehmen. Sie braucht sich momentan
höchstens darüber Gedanken zu machen, ob sie die Mandarine jetzt schälen soll
oder erst in ein paar Stunden. Kate hält sich die duftende Frucht näher ans Gesicht
und atmet den aromatischen Duft ein.
    »Kaffee?« Sie braucht ein paar Sekunden, bis sie kapiert.
Es ist nicht nur eine Frage, es ist ein Vorschlag, eine Einladung und richtet
sich an sie. Langsam legt Kate die Mandarine auf den Tisch und hebt den Kopf.
    Die Frage wird wiederholt, dieses Mal stark akzentbehaftet:
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee haben?«
    Ein junger Mann mit Brille steht mit zwei Plastikbechern
an ihrem Tisch. Sein Gesicht kommt ihr irgendwie bekannt vor. Kate betrachtet
ihn genauer. Man könnte ihn für Andrijs älteren Bruder halten. Er ist größer, hat
breitere Schultern, doch die Nickelbrille und das scheue Lächeln sind gleich.
Die Augen sind allerdings völlig anders - erstens sind seine Augen nicht grün,
sondern von durchdringendem Grau, und da liegt etwas in seinem Blick ... Sie
hat einmal einen Wolf in Longleat Park gesehen, der stolz und trotzig sein
Rudel bewachte und den Autoverkehr im Safari-Park schlicht ignorierte. Er
hatte ganz ähnliche Augen.
    »Ich hab Sie vor ein paar Tagen im Lawra-Museum gehalten«,
souffliert der junge Mann prompt.
    »Ach, als ich Ihnen auf den Fuß getreten bin«, erinnert
sich Kate. Diesmal erwidert sie sein Lächeln.
    »Sieht so aus, als säßen wir hier eine
Weile fest«, sagt er und betont das »wir«. »Warten Sie auch auf den Flug nach
Moskau?«
    »Nein«, erwidert Kate. »Ich fliege nach London. Naja, im
Moment fliege ich noch nirgends hin.« Und im

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