Shevchenko, A.K.
Rücken - Taschen werden gehoben, Leute verlassen den
Waggon. Plötzlich wird ihr Laken ein wenig weggezogen. Sie spürt eine feuchte
Berührung auf der Haut, jemand legt ihr einen Zettel aufs Kopfkissen, direkt
vor ihre Nase. Wenn an dieser Situation überhaupt etwas zum Lachen ist, dann
dies. Er hat ihr einen feuchten Kuss auf den Arm gedrückt, bevor er das Abteil
verließ. Hat ihr seinen Namen und eine Telefonnummer aufs Kopfkissen gelegt.
Die Männer sind längst weg, doch Kate liegt immer noch
reglos da, bis jemand sie berührt. Dieses Mal sehr energisch. Es ist die
Schaffnerin. Wo war sie, als Kate an die Wand gehämmert hat? Tee trinken ?
Sie konzentriert sich auf ihre physischen Handlungen. Ihr
Gehirn ist wie ein Computer im Ruhemodus. Ihr Ellbogen tut weh - sie muss ihn
sich letzte Nacht an der Wand aufgeschrammt haben. Sie hat die Laken bis ans
Kinn gezogen, aber der Fleck auf ihren Schenkel fühlt sich immer noch klebrig
an - ist das sein Sperma?
Sie registriert nüchtern, dass sie ein Paar frische Jeans
anziehen muss, bevor sie aussteigt. Sie handelt mit mechanischer Präzision - schlägt
das Laken zurück, zieht den Reißverschluss der Tasche auf, wechselt die Jeans,
stopft die alte in eine Plastiktüte, um sie später auf dem Bahnsteig in den
Abfall zu werfen.
Sie akzeptiert den unverschämt hohen Preis, den der
Taxifahrer für die Fahrt ins Hotel verlangt, eilt an dem streng blickenden Milizionär
vorbei, holt sich von der Empfangsdame den Schlüssel. Im Bad registriert sie
sachlich den rostigen, tropfenden Wasserhahn, das schmutzige Tuch darunter und
den Schreibfehler auf dem Zettel am Toilettensitz - Disenfected -, bevor sie sich heftig erbricht. Sie beginnt zu zittern,
schafft es aber erst nicht, die Badtür zu schließen, bis sie merkt, dass sie
den Badteppich wegziehen muss. Sie steigt in die Dusche, versucht ein paarmal
vergeblich, den Duschkopf auf den Haken zu hängen, und sieht schließlich, dass
das nicht funktionieren kann: Der Haken ist zu hoch oben angebracht, der
Duschschlauch zu kurz. Als sie den Wasserhahn mit der Aufschrift cold öffnet
und einen Schritt beiseitetritt, bis das kochend heiße Wasser etwas kühler
wird, hat sie die Logik dieses Orts begriffen. Eine halbe Ewigkeit steht sie
unter der Dusche. Ihr Verstand sendet ihr wie ein überlasteter Computer letzte
kurze Befehle. Raus aus der Dusche. Handtuch. Schlafen. Es ist beinahe vorbei.
Beinahe.
21
Flughafen Boryspil, Kiew, April 2001
Das ist pure Magie. Jemand hat einen Zauberstab
geschwenkt, und schon ist der ganze Flughafen in Watte gepackt. Die weiße Hülle
funktioniert wie ein Pflaster, sie heilt unverarbeitete Emotionen und
schmerzliche Erinnerungen. Die Passagiere bewegen sich in Zeitlupe, und selbst
die Lautsprecher wirken gedämpft, aus denen immer wieder entschuldigend das
gleiche Wort ertönt: »Delayed ... delayed ... delayed
...«
Kate blickt auf die Abfahrtstafel. Noch drei Stunden
trennen sie von Freiheit und Normalität, nur noch drei Stunden bis zum Abflug.
Sie hat hier eine Menge gelernt: dass Furcht einen metallischen Geschmack hat
und nach Erdöl und Wodka stinkt; dass Trauer in diesem Land die leuchtende Farbe
orangeroter Wachskerzen hat; dass die Gefahr nur zehn Schritte entfernt sein
kann. Sie weiß jetzt auch, dass sie nicht nur die Kraft hat, in einem Atemzug
(na ja, beinahe) einen steilen Berg hinaufzusteigen, sondern auch die Kraft,
einen Vergewaltiger abzuwehren (okay, er war total betrunken, aber trotzdem),
und dass sie selbstbewusst genug ist, sich mit den höchsten Klerikern dieses
Landes zu treffen, ja sogar mit dem Präsidenten.
Der Tag ist wie im Flug vorbeigegangen. Ab dem Anruf am
Morgen, der sie wieder in die Realität zurückholte (ihr himmlischer Helfer,
Bruder Sergij, wartete in der Hotellobby auf sie), war sie nur ein Blatt, das
der Wirbelwind der Ereignisse vor sich hertrieb: das zweite Treffen mit dem
Prior, eine Autofahrt zum Büro des Präsidenten, der Gang durch die endlosen
Korridore der Macht mit langwierigen Sicherheitskontrollen und endlich das
Treffen mit dem Präsidenten persönlich.
Sie muss wohl etwas empfunden haben, als sie dem
Präsidenten das Kästchen präsentierte, Andrijs Dokumente und ihre Kopie der
betreffenden Seite aus dem Kontokorrentbuch der Bank of England, samt
Registriernummer; aber sie weiß nicht mehr, was sie empfunden hat, sie kann
sich nicht mal mehr daran erinnern, wie sie zurück zum Flughafen kam. Die
einzige Erinnerung ist die an
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