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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Handumdrehen steht der Becher auf
dem Tisch, und der junge Mann sitzt neben Kate und lächelt.
    Sie greift nach dem Becher und lässt ihn fast fallen, als
sie das Prickeln an den Fingerspitzen spürt. Das Brennen steigt ihr bis in die
Kehle und taut die gefrorenen Emotionen auf. Noch eine Sekunde, und sie wird in
Tränen ausbrechen. Oder zu reden anfangen. Ja, reden könnte helfen.
    »Sorry, ich hab Sie nicht gewarnt - das ist sehr heiß«, sagt
ihr Tischgenosse.
    Kate sieht ihn an. Er ist der erste Mensch in diesem Land,
mit dem sie sich unterhalten kann, auch wenn er mit starkem Akzent spricht. Der
Harvard-Absolvent in Lawra zählt nicht; er hat ihr die meiste Zeit gar nicht
zugehört. Plötzlich bricht ein Wortschwall aus ihr heraus. Sie redet
enthusiastisch drauflos, nicht sicher, ob er ihr problemlos folgen kann, aber
er sitzt mit ernster Miene da und hört aufmerksam zu.
    »Ich habe kürzlich einen sehr lieben Menschen verloren«,
erzählt sie ihm, »und ich bin diesem Menschen gegenüber eine Verpflichtung
eingegangen - eine Verpflichtung, die sehr, sehr schwer einzulösen war. Wissen
Sie, wie schwer es ist, wenn man völlig allein ist und die ganze Welt gegen
sich hat? Halten Sie es für möglich, so weiterzuleben?«
    »Das ist eine schwierige Frage.« Seine Augen hinter den
Brillengläsern blicken mitfühlend und verständnisvoll. »Ich weiß nicht, was
Ihnen zugestoßen ist, ich kann nur erahnen, was Sie gerade durchmachen.« Er
beugt sich vor und berührt ihre Hand. Seine Finger sind angenehm kalt. »Ich
kann nur sagen, dass Sie stark genug sein müssen, um mit dieser Verpflichtung
zu leben - nicht nur für sich selbst, auch für die Person, die Sie verloren
haben.«
    » Passashyry do Londona
... Passengers for London ...« Die
Stimme aus dem Lautsprecher klingt schon viel fröhlicher. Auf der Abflugtafel
leuchtet Gate 8 auf.
    »Danke, dass Sie mir zugehört haben«, sagt Kate nur. Und
es überrascht sie selbst, dass sie hinzufügt: »Kommen Sie je nach London?« Er
nickt.
    Sie kramt lange in ihrer Tasche, zunehmend nervös, denn
sie weiß, wenn sie jetzt nicht bald die Visitenkarte findet, verpasst sie ihren
Flug. Schließlich reißt sie ein Stück Zeitung ab und kritzelt ihre
Telefonnummer auf den weißen Rand. »Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie mal in
London sind«, sagt sie und gibt ihm den Zettel.
    Er betrachtet ihn einen Moment. »Heißt das >sechs<
oder >acht    »>Acht< - und das heißt auch >acht<.« Sie
liest ihm die ganze Nummer vor.
    »Es ist schön«, antwortet er. Zuerst denkt sie, er meint
»Es war schön, Sie kennenzulernen«, aber da er grammatikalisch nicht so
sattelfest ist, meint er vermutlich »Das wäre schön«. »Werden Sie mich
anrufen?«, hakt sie noch einmal nach und beißt sich auf die Unterlippe, als sie
versucht, die Balance zwischen ihrer Reisetasche und dem Gewicht des
eingepackten Gemäldes zu wahren.
    Er sieht sie todernst durch seine Nickelbrille an. »Ja,
ich werde Sie anrufen, wenn ich in London bin. Versprochen.«
     
    DIE WEISHEIT
     
    Das wahre Mysterium der Welt ist das Sichtbare, nicht das
Unsichtbare.
    Oscar Wilde (1854-1900)
     
    TARAS
     
    22
     
    Moskau, Montag, 9. April
2001, 19.30 Uhr
    Er hätte ihr kein Geld dafür geben sollen, dass sie aufhört;
er hatte ja geahnt, dass sie nicht aufhören würde. Sie hat das Geld genommen,
kurz innegehalten, sich die Nase gewischt, gehustet, ihn trotzig angestarrt und
wieder von vorn begonnen. »Ne-e-sse Ga-a-a-lja ... wo-o-odu ...« Ihre
halb erfrorenen Hände singen mit, folgen dem Fluss der Melodie. Sie ist
höchstens zwölf, dieses Mädchen, das hier ein ukrainisches Lied aus Taras'
Kindheit singt, seine letzte Erinnerung an seine Mutter.
    »Da-aj wo-o-dy ... napy-y-zja ...« Das
klingt so traurig und verlassen, obwohl der Text Hoffnung und jungenhafte
Erwartung ausdrückt: »Gib mir Wasser, Galja, lass dich ansehen, du Schöne.«
Seit drei Monaten steht sie nun an dieser Ecke. Sie singt am Ausgang, ist sich
der unterirdischen Welt der Perestroika-Überlebenden nicht bewusst: Rentner,
die Zeitungen und ihre Hoffnungen auf ein sicheres Alter verkaufen; ehemalige
Ingenieure, die Zigaretten und ihren Stolz verkaufen. Vor ihr in einer
Schuhschachtel liegen immer ein paar Münzen - ihr Obolus an ihre alkoholkranke
Mutter, dafür, dass die sie bei sich zu Hause wohnen lässt, nicht an die Straße
verkauft.
    Als er sich seufzend vorbeugt, um noch eine Münze in die
Schuhschachtel

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