Sheylah und die Zwillingsschluessel
leise. Er schaute sofort auf und kam zu ihr herüber. „Was kann ich für dich tun?“, fragte er und küsste sie auf die Stirn. „Wenn ich nicht bald einschlafe, werde ich noch verrückt, ich kann meine Beine kaum stillhalten.“ „Dann schlaf und denk an nichts“, hauchte er ihr ins Ohr. Ihre Lider wurden schwer und kurze Zeit später döste sie auch schon vor sich hin. Als sie aufwachte, konnte sie sich nicht daran erinnern, geträumt zu haben. Andrey hatte sie geweckt, weil sie das Dorf vor Sonnenaufgang erreichen wollten. Er half ihr auf und stützte sie noch einen Moment. Sie fühlte sich, als hätte sie Watte im Kopf und Pudding in den Beinen. „Was hast du mit mir gemacht?“ „Ich habe deine Erinnerungen geblockt, damit du keine Alpträume hast. Sie werden aber bald zurückkehren.“ Sie löschten den qualmenden Aschehaufen und verließen den Lagerplatz so sauber, wie sie ihn vorgefunden hatten. Neela führte sie durch einen Regenwald, in der die Luft so feucht war, dass Sheylah schon nach wenigen Minuten durchgeschwitzt war. Wenigstens war sie nicht die Einzige, der es so erging. Auch die Männer vertrugen das feuchte Klima nicht, dennoch lohnte es sich, durch den Regenwald zu laufen. Vögel in prachtvollen Farben zwitscherten vergnügt, Wasser lief in kleinen Flüssen und Sheylah war erstaunt, zur Abwechslung einmal Tieren zu begegnen, die sie aus ihrer Welt kannte. Nun gut, Isaak und Raqui waren zwar auch normale Tiere, aber so unnatürlich groß, dass es schon wieder nicht zählte. Mitten im Wald begegneten sie einem Rudel Tiger, obwohl sie sich fast sicher war, dass Tiger keine Rudeltiere waren. Sie nahmen wenig Notiz von ihnen, betrachteten sie nur einen Augenblick und wanderten dann weiter. Sheylah nuckelte alle fünf Minuten an ihrer Trinkflasche, um nicht einzugehen. Es ärgerte sie, dass die Hitze den anderen offenbar auch zu schaffen machte, aber niemand so ein Drama daraus machte wie sie. Vielleicht steckte doch mehr Prinzessin in ihr, als ihr lieb war! „Wir sind gleich da“, rief Neela, die seit Nubis die Führung übernommen hatte. Sheylah konnte in der Ferne Trommeln schlagen hören. Es war ein schneller Rhythmus, der geradezu zum Tanzen einlud. Sie lächelte und stellte sich halbnackte Menschen vor, die mit Federn in den Haaren um ein Feuer tanzten. Über ihre Gedanken musste Sou lauthals lachen. Je näher sie dem Dorf kamen, desto lauter wurde das Trommeln und ließ Sheylahs Herz zum Rhythmus tanzen. Schließlich gelangten sie an einen großen, aus Bambus geflochtenen Torbogen. Um das Tor herum waren Pfähle in den Bogen gerammt, auf denen eingetrocknete und verschrumpelte Köpfe steckten. Man konnte nicht erkennen, ob es sich um Menschen oder andere Wesen handelte, weil die Köpfe zu entstellt waren – und eigentlich wollte es Sheylah auch gar nicht wissen. Sie biss sich auf die Zunge, um keine angewiderte Bemerkung zu machen. Sie wollte Neela nicht beleidigen. Doch an ihrer Stelle fragte Berger. „Was sind das für Wesen?“ „Das sind Skintii“, verkündete Neela stolz. „Eine Warnung an all jene, die glauben, es mit uns aufnehmen zu können.“ „Nett“, sagte Sheylah. „Wunderschön, nicht?“, bemerkte Andrey. Sheylah sah ihn angewidert an. Was bitte war an verschrumpelten Köpfen schön? Als Andrey ihren Gesichtsausdruck bemerkte, schüttelte er den Kopf. „Ich rede von dem Dorf.“ Er deutete hinter den Torbogen und Sheylah folgte seinem Blick. Dahinter befand sich ein großer freier Platz, in dessen Mitte ein kleiner Brunnen stand. Seine Außenwand war mit Bambus verziert. Hinter dem Brunnen wiederum ragte ein großes Gebäude aus Stein empor. Das Gestein hatte eine rot-graue Farbe und blätterte scheinbar schon seit Jahren ab. Anstelle einer Tür gab es nur einen schmalen Durchgang und links und rechts davon waren Fackeln in den Boden gerammt worden. Es hätte eine Kirche sein können, hätte dort nicht anstelle eines Kreuzes ein Tierkopf gehangen. „Was ist das?“, wollte Sheylah wissen. „Das ist der Tempel von Oraya, unserer Schamanin.“ „Schamanin?“ „Unsere Heilerin. Sie hat mich damals gesund gemacht, als Andrey und Djego mich hierher brachten. Sie pflegt Kontakte zur Geisterwelt.“ Sheylahs Neugierde war geweckt, doch es gab eine Person, die sie dringender kennenlernen wollte, nämlich die Anführerin dieses Dorfes. Um zu ihr zu gelangen, mussten sie das Dorf durchqueren. Und es war ein sehr großes Dorf. Das fünftgrößte in ganz Basa, wie Neela
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