Sheylah und die Zwillingsschluessel
Menschen am Hofe, bemerkte sie. Sie zählte zehn, in grünen Schürzen gekleidete Frauen, welche den verschiedensten Arbeiten nachgingen. Einige fegten den Boden, andere hängten Wäsche auf, eine fütterte die Hühner und andere trugen Körbe mit frischen Äpfeln und Brot ins Schloss. Es war ausgesprochen ruhig in Lichtingen, keine Kinder, keine schnatternden Frauen und kein besoffenes Gesindel. Der genaue Gegenpol zu Torga. Als Sheylah der Geruch von frisch gebratenem Fleisch und würziger Suppe in die Nase stieg, fing ihr Magen hörbar zu knurren an. Vor dem Schloss wurden die drei von ihren Rittern getrennt. Man hatte eine Scheune umbauen lassen, in der die knapp zweihundert Männer speisen und nächtigen konnten - sie hatten es sich redlich verdient. Sheylah wurde diese Ehre vorerst leider nicht zuteil, denn sie musste erst einmal die Gräfin begrüßen.
Sie betete, dass sie dennoch zeitig schlafen gehen konnte. Djego, Sheylah und Andrey wurden ins Schloss geführt und stoppten vor einer großen Flügeltür. Als Sheylah Schritte hörte, fiel ihr Blick auf eine Wendeltreppe, die hinauf führte und vollkommen im Dunkeln lag. Eine große Gestalt trat aus dem Schatten und kam auf sie zu – es war ein Mann. Der Riese blieb so dicht vor Sheylah stehen, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um in sein Gesicht zu sehen. Er hatte ebenfalls kurzgeschorene Haare, ein auffallend markantes Gesicht und war sehr breitschultrig. Das Auffälligste an ihm, wenn man seine Größe nicht beachtete, waren jedoch die Narben, die sich über seine linke Wange zogen. „Ich freue mich, Euch endlich kennenzulernen, Prinzessin“, begrüßte er sie, verbeugte sich und küsste ihre Hand. Sheylah spürte, wie sich Djego und Andrey anspannten. Für die beiden hatte der Riese nur ein Nicken übrig. „Mein Name ist Berger. Ich bin der Befehlshaber dieses bescheidenen Trupps und Lisas Leibwächter“, sagte er an Sheylah gewandt. „Sind das alle Männer, die du befehligst?“, fragte sie. „Keineswegs, es gehören einhundert Mann zu diesem Anwesen, sie sind jedoch auf Patrouille“, antwortete er mit tiefer Stimme. Er sah Andrey herausfordernd an und Andrey funkelte zurück. „Kennt ihr euch?“, wollte Sheylah wissen und trat zwischen die beiden. „Allerdings“, zischte Andrey, ohne weiter darauf einzugehen. Berger schenkte ihm ein überhebliches Lächeln, dann öffnete er die Flügeltür und ließ sie eintreten. Sheylah glaubte, im Paradies zu sein. Bilder von wunderschönen Frauen und exotischen Geschöpfen schmückten die weißen Wände und der Boden war reich verziert mit bunt bemalten Fliesen. In den Ecken standen wunderschöne Skulpturen und von der Decke baumelten weiße lianenartige Pflanzen. Sheylah und Djego sahen sich erstaunt um, nur Andrey wirkte nicht im Geringsten beeindruckt.
Er musste der Einzige sein, der schon einmal hier gewesen war. „Ihr seid früh dran, wir haben euch erst nach Sonnenuntergang erwartet“, bemerkte Berger in die Stille hinein. „Dank Lisas Hilfe hat der Kampf auch nicht lange gedauert“, antwortete Andrey. Ärger und Bedauern schwangen in seiner Stimme mit. Berger öffnete eine weitere Flügeltür und Sheylah versuchte, ihren Kopf zu leeren und vor allem nicht an Andrey zu denken. Sie hatte das Gefühl, dass viel davon abhing. Der Raum, den sie nun betraten, war so hell beleuchtet, dass man im ersten Moment dachte, man befinde sich unter freiem Himmel, in der prallen Sonne. Doch es lag daran, dass das Tageslicht durch die löchrigen Mauern schien. Die rote Abendsonne konnte so den gesamten Raum hell erleuchten. Sheylah war mehr als fasziniert, dann fiel ihr Blick auf Lisa. Sie hatte goldblondes lockiges Haar, das ihr schwer auf die Schultern fiel. Sheylah schätze sie auf vierzig Jahre, aber das Alter tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Die vollen Lippen und hohen Wangenknochen lenkten von den wenigen Falten ab. Sheylah blieb an ihrem linken Silberauge hängen und musste unwillkürlich an die alte Frau am Marktstand denken. War das etwa …?
Nein, das konnte nicht sein! Die alte Dame war mindestens doppelt so alt gewesen wie Lisa. Sheylah blinzelte und schaute noch einmal genauer hin, doch Lisas Augen waren grün - kein Silberauge, das sie anstarrte. Sheylah rieb sich die Augen. War sie etwa so müde, dass sie schon Wahnvorstellungen bekam? Lisas Lippen breiteten sich zu einem Lächeln aus, als sie die Neuankömmlinge eintreten sah. Die Gräfin trug ein helles weitgeschnittenes
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